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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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möglichen semiintimen Kontaktes nur schemenhaft am Horizont auftauchte, und dass er es tatsächlich so weit hatte kommen lassen, sich mit einer Frau, die er an
dem
Abend erst kennengelernt hatte, zu küssen, das gab es eigentlich gar nicht. Er erinnerte sich an ihren Namen, weil seine Mutter ebenfalls Johanna hieß und er, als sie einander vorgestellt wurden, nichts Besseres zu sagen gewusst hatte als: »Du heißt Johanna? Hey, meine Mutter heißt auch Johanna!«
    Er stand seitlich hinter ihr und erkannte sie erst beim zweiten Hinsehen. Sie hatte sich verändert. Damals hatte sie ihr blasses Gesicht noch hinter einem Schleier zerzauster Haare verborgen und einen Schlabberpulli getragen, dessen Ärmel länger gewesen waren als ihre Arme. An sie heranzukommen war eine Entdeckungsreise gewesen. Jetzt hatte sie einen gestuften Kurzhaarschnitt, den Roswita fesch genannt hätte (und sie hätte recht gehabt), trug Schuhe mit vier bis fünf |103| Zentimeter hohen Absätzen und ging selbstbewusst. Zwischen ihrer Hose und dem, was ihren Oberkörper bedeckte, war ein schmaler Streifen gebräunter Haut zu sehen. Tom nahm an, dass vorne der Bauchnabel rausguckte, Piercingwahrscheinlichkeit circa dreißig Prozent. Sie duftete dezent.
    Er erschrak ein wenig, es war wie Luftanhalten. Jemanden, den man irgendwann irgendwo im Nachtleben getroffen hatte, erwartete man nicht in der Montagmorgenrealität bei Tageslicht wiederzusehen. Etwas Nervosität, weil er unsicher war, ob sie ihn wiedererkennen würde, und wenn ja, wie er sich verhalten sollte. Sie küsste sich sicher häufiger mit fremden Männern als er mit fremden Frauen, und wahrscheinlich nicht nur das. Deshalb ging Tom davon aus, dass er in ihrer Erinnerung zu Rührkuchen verblasst war, während sie bei ihm noch als Schwarzwälderkirsch umging.
    Sie zahlte, nahm einen Stapel Zeitschriften von der Theke und verließ das Geschäft. Sie sah ihn nicht an, lächelte aber im Vorbeigehen: Hab’ dich längst erkannt! Wie war das möglich? Sie hatte nicht einmal den Kopf in seine Richtung gedreht. So etwas konnten nur Frauen.
    Als er vor das Geschäft trat, stand sie wartend auf dem Bürgersteig. Ihr Körper war ihm zugewandt, ihren Blick aber schickte sie die Straße runter. Kein Piercing. Er hatte sich mit einer Klassefrau geküsst! In zwei Metern Entfernung blieb er stehen, machte auf lässig und wartete, bis nichts mehr darüber hinwegtäuschen konnte, dass die Straße runter nichts zu sehen war. Er hatte den Verdacht, sie zähle leise von zehn rückwärts. Bei null drehte sie ihm den Kopf zu und sagte: »Du bist Tom, stimmt’s?«
    Tom war beeindruckt – und vielleicht doch kein Rührkuchen.
    »Hmm.«
    »Wir haben uns geküsst.«
    »Hmm.«
    |104| »Weißt du noch, wie
ich
heiße?«
    »Natürlich. Johanna. Hast du etwa gedacht, ich hätte deinen Namen vergessen?«
    Schleimscheißer.
    Sie gingen frühstücken. Tom stellte sein Handy aus. Es war Montag Vormittag, die Sonne schien, er hatte eine tolle Frau wiedergetroffen, hinter ihm lag ein frustrierendes Wochenende und vor ihm eine ganze Woche in Staub und Schweiß mit einem gequetschten Daumen. Wladimir konnte warten.
    Sie plauderten miteinander, als hätten sie eine gemeinsame Vergangenheit; Tom musste sich gar nicht anstrengen. Manchmal sagte sie komische Sachen, wie:
» Ich
liebe Gemüse«, oder:
» Alle
Franzosen sind schizophren«, an ihr aber war das irgendwie nett und nicht dämlich wie bei den meisten anderen. Kürzlich hatte ihre Schwester geheiratet. Johanna hatte sie mit einer Platzwunde inklusive Gehirnerschütterung ins Krankenhaus fahren müssen, nachdem ihr betrunkener Schwiegervater sie beim Tanzen zielsicher gegen eine Säule gesteuert hatte.
    Tom hatte nichts Adäquates entgegenzusetzen, also erfand er eine Geschichte und berichtete von
seinem
letzten Familientreffen, auf dem er für seine Verwandtschaft einen Freund erfunden habe, bei dem zu übernachten er vorgab, um sich nicht bei einem von ihnen einquartieren zu müssen. Stattdessen war er in ein Hotel gegangen, weil er seine Ruhe wollte. Tom wurde mutig: »Das Bett war so groß, darin hätte ich zwei Frauen mit übernachten lassen können.«
    »Und, was hast
du
gemacht?«
    »Pay-TV angeschaltet und mir einen runtergeholt.«
    Sie lachten.
    Johanna: »Egoist.«
    »So hab’ ich es noch nie betrachtet.«
    Hatte er tatsächlich noch nicht. Komische Vorstellung. War |105| es tatsächlich so? Gab es Frauen, die Männer nicht nur gewähren ließen, sondern

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