Sonnenwende
dir kommen.«
»Ich weiß nicht … immerhin
hab’
ich einen Freund.«
Nicht die Nummer, nicht mit Wladimir.
|99| »Den hat doch jede.«
Die nächsten zwei Akte hatte Franziska Zeit, sich mit Wladimirs Bemerkung auseinanderzusetzen. Eigentlich ein arroganter Chauvispruch. Erst machte er die ganze Zeit auf schüchtern, und dann ließ er so einen Satz vom Stapel. Andererseits imponierte ihr seine plötzliche Entschlossenheit. Vielleicht sollte sie sich einfach nicht so viele Gedanken machen. Es war ja nicht so, dass sie Gerd nicht liebte, und außerdem: Wusste
sie
, ob
der
nicht das Gleiche gemacht hatte in den sechs Wochen, die er jetzt in Wiesbaden war? Und so kam es, wie es kommen musste: Sie standen vor ihrer Haustür, und Wladimir und sein neuer Mut sagten: »Komm, wir gehen rauf und sagen uns schöne Dinge.«
Es klang nicht gerade zärtlich oder konspirativ oder geheimnisvoll. Eigentlich war von Anfang an klar gewesen, worauf es hinauslaufen würde, und er fand, dass man jetzt nicht mehr so tun musste, als ob es um etwas anderes ging.
Sie erklärte ihm, dass es ihr strenggenommen nicht egal sein durfte, dass sie einen Freund hatte, und es vielleicht deshalb nicht so gut wäre. Wladimirs Antwort war ein angedeutetes Schulterzucken: Gerd war
ihr
Problem.
Wladimir: »Wenn du nicht willst … Ich zwing’ dich nicht.«
Er hatte schon intelligentere Dinge zum Besten gegeben, war es aber leid zu diplomatisieren. Franziska täuschte Überlegung vor, echtes Ringen. Wladimir sollte nicht das Gefühl haben, sie sei ein unanständiges Mädchen und mache sich eine solche Entscheidung leicht. Als interessierte ihn das. In Wirklichkeit war ihre Entscheidung natürlich längst gefallen, und sie wusste, wie ihre Antwort lauten würde, und er wusste es auch. Und er wusste auch, dass sie es wusste, und sie wusste, dass er wusste, dass sie es wusste. Er lächelte im Schein der Straßenlaterne, sie kapitulierte.
|100| Franziska: »Ach, zwing mich doch! Dann brauch’ ich wenigstens kein schlechtes Gewissen zu haben.«
Während sie ihre Bluse aufknöpfte, sagte sie ihm noch, dass er spätestens um acht Uhr gehen müsse, denn sie wisse nicht, wann ihr Freund zurückkäme. Das kam Wladimir sehr gelegen.
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|101| Johanna
Am Montag traf Tom Johanna, oder besser: Sie stand plötzlich vor ihm, im Zeitungsladen in der Leonhardtstraße. Er kam gerade von KLUWE, Arbeitsmaterial besorgen. Beim Einladen der Rigips-Platten hatte er sich den Daumen gequetscht. Das machte er immer, es schien nicht anders zu gehen. Die Platten waren schwer, sperrig und empfindlich und mussten zentimetergenau durch die Heckklappe geschoben werden. Die Stelle, an der Tom sich den Daumen quetschte, war immer dieselbe. Aus lauter Frust hatte er sie mit schwarzem Edding markiert und »Hier stauchen!« danebengeschrieben – und auch diesmal getroffen.
Er hatte den Wochenanfang herbeigesehnt, der ihn wieder in die monotone Abgeschiedenheit dröhnender Schleifmaschinen entließ. Das Wochenende mit Helen war wie das Warten auf einen Zug gewesen, der nie kam:
»Hast du heute Abend schon was vor?«
Helen: »Was sollte ich denn vorhaben?«
»Ich weiß nicht, hätte ja sein können.«
»Nein, ich hab’ nichts vor.«
»Wollen wir dann vielleicht ins Kino gehen?«
»Was ist los? Sind deine Freunde alle verreist?«
Paul war tatsächlich nicht in der Stadt. Blieb Wladimir, aber den hatte Tom jeden Tag um sich.
»Ich dachte nur, wir könnten ja mal wieder ins Kino gehen. Ist schon ’ne Weile her, seit wir das letzte Mal zusammen einen Film gesehen haben.«
»Du willst mit
mir
ins Kino gehen?«
|102| »Würde ich sonst fragen?«
»Keine Ahnung. Würdest du?«
Tom wollte für sich und Wladimir die Zeitung besorgen. Eigentlich lohnte es nicht. Das Sommerloch war dieses Jahr so groß, dass die Zeitungen es mit einem Wetterfrosch füllen mussten, der seine Freundin zum Sex gezwungen haben sollte. Auf den Fotos, die neuerdings die Titelblätter der BILD zierten, trug er schon dieselbe Lederjacke wie Keith Richards. Toms Latzhose roch zwölf Meter gegen den Wind nach Holzstaub, und sein T-Shirt trug die Narben wochenlanger Kämpfe mit Tibatongs Wohnung.
Sie hatten sich geküsst – Johanna und er. Auf einer Party. War schon lange her. Sehr lange. Tom hätte das Jahr raten müssen. Er konnte nicht mehr rekonstruieren, wie es dazu gekommen war. Seit er mit Helen zusammen war, blockte er einen Annäherungsversuch bereits ab, wenn die Andeutung eines
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