Sonnenwende
duldet keinen Aufschub.«
Er stand da wie einzementiert, also nahm sie seine Hand und zog ihn in die Wohnung. Mit dem Fuß trat sie die Tür ins Schloss. Während ihre Körper sich aneinanderdrängten, fuhr ihr Finger die Umrisse seiner Lippen nach. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und träufelte süße Worte in sein Ohr, und ihre Zunge spielte mit ihnen, bevor sie sie fallen ließ, und ihr Atem war warm und schmeckte nach Lust, und sie drückte ihn an die Wand, schob sein T-Shirt hoch und küsste seine |108| Brustwarzen, und während die eine Hand sich in seinen Haaren verlor, strich die andere über seinen Hintern, sie lächelte und küsste ihn, seine Lippen gaben nach, und ihr Bein drängte zwischen seine, sie spürte, dass er schon ganz hart war, und sie lächelte, und ihre Hand glitt zwischen seine Schenkel …
Nach einem Marathonlauf durchs Paradies verließ Tom ihre Wohnung. Es war halb fünf morgens, Johanna schlief. Sein Auto trug ihn durch die noch träumende Stadt; nach Hause zu fahren schien ihm unmöglich. Der Geschmack der Luft erinnerte ihn an seine Kindheit, als seine Eltern im Sommer mit ihm Campingurlaub gemacht hatten. Er war immer als Erster wach gewesen und hatte sich leise in den Morgen hinausgestohlen. Das war, bevor sein Vater aus seinem Leben verschwunden war.
Am Alexanderplatz glitt lautlos ein Zug über eine Brücke; sein weißer Lichtstreifen zerschnitt die Nacht in zwei Teile. Der Dom stand majestätisch und schwieg. Die zwei Löwen vor dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt bewachten aufmerksam den menschenleeren Platz, und als Tom schließlich vor dem Stella-Theater den Wagen einparkte, wurde ihm klar, dass seine Fahrt ein Ziel gehabt hatte.
Seit einigen Wochen arbeitete Paul als Nachtportier im Hyatt. Er stand am Empfangstresen wie ein Captain auf seiner Kommandobrücke und schien nicht im Geringsten überrascht zu sein, als Tom plötzlich durch das Foyer auf ihn zukam. Eine lange Minute standen sie sich schweigend gegenüber, dann sagte Paul: »Du siehst aus wie Regen am Strand«, und Tom hätte heulen können vor Rührung.
Paul schob ihn in einen holzvertäfelten Fahrstuhl und drückte den obersten Knopf. Oben angekommen, führte er ihn über steingeflieste Gänge durch den verwaisten Wellnessbereich, vorbei am Swimmingpool und schließlich hinaus auf die Aussichtsterrasse, wo er ihn seinen Gedanken überließ, |109| die die vergangenen Stunden umkreisten, dann Tage und Wochen und schließlich Monate und Jahre. So saß Tom über der Stadt und hielt sein Gesicht der aufgehenden Sonne entgegen.
Erste Schatten zeichneten die Umrisse der Gebäude nach, Farben hoben sich aus der Nacht; das Grün der Jalousien gegenüber, das Gelb eines Sonnenschirms. In einer Penthousewohnung auf der anderen Straßenseite ging Licht an. Eine Frau in weißem Bademantel bewegte sich durchs Zimmer. Sie telefonierte. Tom wunderte sich, dass an diesem Ort tatsächlich Menschen wohnten. Ein leises Rauschen lag über der Stadt, deren Luft ein schläfriger Dunst füllte. Unten auf dem Platz kroch ein orangefarbenes Reinigungsfahrzeug über die Straße; von oben sah es aus wie ein Krebs.
Die Frau im Bademantel hatte das Telefon auf den Tisch gelegt und war zur Terrassentür hinübergegangen. Tom konnte ihr Gesicht nicht erkennen, ahnte aber, dass sie ihn beobachtete, wie er auf der Bühne des Hotels im ersten Licht des Tages am Geländer lehnte. Sie schob die Tür zur Seite und trat auf die Terrasse. So standen sie sich gegenüber, um sie herum eine Stadt voller Menschen, die nichts von diesem Morgen wussten, nichts von dieser seltsamen Begegnung und nichts voneinander. In ein paar Stunden würde dies der geschäftigste Ort Berlins sein, doch über den Dächern war nichts davon zu spüren. Einem plötzlichen Impuls folgend, winkte er ihr zu. Sie hob zögerlich eine Hand.
»Das wird ein schöner Tag«, rief er.
Er glaubte sie lächeln zu sehen, aber sie antwortete nicht. Vielleicht hatte sie ihn auch nicht gehört. Ein Blick noch, der die Flüchtigkeit dieser Begegnung über die Straße trug, dann verschwand sie wieder in der Dunkelheit.
Manchmal drehte Tom seine Finger im Licht. Acht Stockwerke tiefer begann das Tagesgeschäft, die Geheimnisse der |110| Nacht zu verschlingen. Um sieben kam Paul mit zwei Gläsern frisch gepresstem Orangensaft, und sie saßen noch eine Stunde und schwiegen.
***
Zwei Tage lang fühlte Tom sich schwerelos, doch am Samstag kam der Jetlag. Zu Hause pilgerte er nur
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