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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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endlich einschlief. Am nächsten Morgen erzählte ihm Helen, er hätte im Schlaf geweint. Was sie getan hatte, wusste er nicht.
    |113| So sollte es für Wochen sein: Wenn er abends im Bett neben ihr lag und nach einer kleinen Ewigkeit ins Land der Träume hinüberzudösen begann, dann gab es zuvor ein paar endlose Minuten, in denen er schwerer atmete als sonst und der Versuchung widerstehen musste, es ihr zu erzählen. Zum ersten Mal fühlte er, dass es zu spät sein könnte. Dass sie sich zu weit voneinander entfernt haben könnten, um wieder zueinanderzufinden. Zu viel Schmerz und Abweisung, sie konnten nicht mehr zurück. Nichts wurde wieder so, wie es mal war.

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    |114| Die Finsternis
    Mittwochmorgen, 11. August. Die Nation befand sich in gespannter Erwartung einer totalen Sonnenfinsternis. Tom und Wladimir waren im Epikur zum Frühstück verabredet. Neun Uhr war ausgemacht, sie wollten den Vormittag nicht wieder ungenutzt verstreichen lassen. Bei Professor Tibatong, dessen Wohnung sie inzwischen seit Wochen mit Arbeit versorgte, warteten noch 260 Quadratmeter deutsche Eiche darauf, abgeschliffen zu werden.
    In letzter Zeit war das Wetter eine zu große Versuchung gewesen. Immer wieder hatten sie tageweise blaugemacht, ihr Terminplan ging nicht mal mehr als Absichtserklärung durch. Es war wie in der Schule: Wenn zur ersten großen Pause eine bestimmte Temperatur erreicht war, gab es hitzefrei. An kniffligen Tagen musste man das Thermometer schütteln, aber wenn man wollte, ging es fast immer. Noch mehr Tage dieser Art allerdings durften sie sich nicht erlauben, sonst würde der Professor unwirsch werden.
    Nach drei Monaten Zusammenarbeit hatte Tom einiges über Wladimir gelernt. Zum Beispiel, dass er auf keinen Fall vor zehn Uhr kam, wenn er um neun verabredet war. Aus diesem Grund fuhr Tom bei ihm vorbei und warf ihn um Viertel nach neun aus dem Bett. Wladimir öffnete missmutig die Tür und verschwand gleich darauf im Bad.
    Tom: »Guten Morgen.«
    »Schuhe aus!«
    Wahllos zog Tom ein paar Einzelausgaben aus dem Notenregal und verfügte sich an den Flügel. Er hatte Glück, an dritter |115| Stelle lag die »Pavane pour une infante défunte«, eines seiner Lieblingsstücke. Na ja, es war nicht nur Glück; inzwischen wusste Tom ungefähr, wohin er greifen musste. Aus dem Bad kamen Geräusche wie aus einem verdorbenen Magen.
    »Ist das nicht dieses französische Ding?«, rief Wladimir aus dem Hintergrund.
    »Ja.«
    »Was war das noch?«
    »Ravel. Die Pavane für eine verstorbene Infantin.«
    »Komisches Wort, Infantin, findest du nicht? Sag mal, wann hat dieser Ravel noch mal gelebt?«
    »Achtzehnfünfundsiebzig bis neunzehnirgendwasdreißig. Er war winzig und mochte Hunde, die noch kleiner waren als er. Zu dem Stück gibt es eine schöne Anekdote: Er hat es der Gräfin Polignac gewidmet, die einen Salon unterhielt, in dem sich damals allerhand angesagte Schöngeister tummelten. Als er es vorstellte, soll zufällig Marcel Proust anwesend gewesen sein und spontan entschieden haben, dass dieses Stück dereinst auf seiner Beerdigung gespielt werden solle.«
    »Und? Haben sie?«
    »… Es auf seiner Beerdigung gespielt? Ich weiß nicht.«
    »Tom?«
    »Was ist?«
    Wladimir kam aus dem Bad mit Schweißperlen auf der Stirn.
    »Fahr schon mal vor. Ich komme nach, sobald ich drei Espressos, zwei Aspirin und einen Liter Wasser zu mir genommen habe.«
    »Aber schlaf nicht wieder ein.«
    »Jaja. Nerv nicht.«
    »Also schön, bis gleich.«
    Auf der Treppe schob sich eine Frau an Tom vorbei, die sich ein blutiges Handtuch um den Daumen gewickelt hatte.
    »Entschuldigung«, sagte sie, ohne dass er gewusst hätte, |116| was er hätte entschuldigen können, und war an ihm vorbei, bevor er ihr seine Hilfe anbieten konnte.
    Hier sind einige noch nicht ganz wach, dachte Tom und war ganz froh, dass Wladimir ihn vorgeschickt hatte. So konnte er in Ruhe die Zeitung lesen.
    Charlotte arbeitete. Mit ihren ungezähmten Haaren sah sie manchmal wie eine Hexe aus und manchmal wie ein Engel. Heute war ein Engeltag. Sie gab gerne mit ihrem flachen Bauch an und trug zu kurz geratene T-Shirts. Ihre Begrüßung war überschwänglich: Sie hüpfte auf der Stelle, als sie Tom kommen sah, lief auf ihn zu und küsste ihn auf den Mund. Das war so ihre Art, er war kein Einzelfall.
    Sie wirkte etwas chaotisch, aber auf eine einnehmende Art. Tom hatte beobachtet, dass manche Gäste dankbar waren, wenn sie die Bestellungen durcheinanderbrachte, dann

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