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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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noch nervös durch die Wohnung, deshalb war er im Epikur, bevor es überhaupt öffnete. Charlotte stand über einen Tisch gebeugt und klemmte Zeitungen in Bügel.
    »Tut mir leid, aber wir haben noch … Ach, Tom, du bist es! So früh?«
    »Hi.«
    Sie küsste ihn herzhaft, wie üblich.
    »Schläfst du in letzter Zeit schlecht?«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Paul hat mir erzählt, dass du ihn am Donnerstag im Hyatt besucht hast – morgens um fünf.«
    »Ich wollte den Sonnenaufgang sehen.«
    »Verstehe.«
    Sie wirbelte durchs Café, stellte Blumen auf die Tische und platzierte Zucker und Salzstreuer. Die Köchin war noch nicht da, ihre Servicekollegin kam erst um zehn, vorher war nichts los. Charlotte machte zwei Milchkaffee und setzte sich zu Tom an den Tisch. Wie üblich kaute sie etwas – ein Croissant diesmal. Immer wenn Tom sie sah, aß sie etwas, ihr Stoffwechsel musste arbeiten wie eine Heuschreckenplage. Sie tranken. Plötzlich fiel ihr etwas ein: »Ich muss dir was erzählen. Neulich hab’ ich von dir geträumt. Wir haben uns geküsst.«
    »Wieso hast du nichts gesagt, dann hätte ich mitgeträumt.«
    Sie beugte sich über den Tisch, um Tom zum Trost auf die Stirn zu küssen, hatte aber den Mund noch voll.
    Tom: »Erst schlucken, dann küssen.«
    |111| »Vorsicht, ich bin empfänglich für so was.«
    Als er begriff, worauf sie anspielte, wurde er rot. Richtig rot. Er fand, so etwas gehörte sich nicht. Schließlich war sie sechs Jahre mit einem seiner besten Freunde zusammen gewesen.
    »Ich habe eigentlich das Croissant gemeint.«
    »Ich aber nicht.«
    »Hab’ ich gemerkt.«
    Sie lächelte verschwörerisch.
    »Ist dir das unangenehm, wenn ich so offen darüber spreche, dass ich dir gerne einen blasen würde?«
    »Und du? Macht es dir Spaß, mich in Verlegenheit zu bringen?«
    »Und wie! Du bist immer so … gut. Es wird Zeit, dass jemand mal etwas für
dich
tut.«
    Die schlugen alle in die gleiche Kerbe. Er musste den Eindruck eines Märtyrers verbreiten. Es kam ihm vor, als hätte er nicht nur Helen, sondern auch seine Freunde betrogen. Alle dachten, er sei die Treue in Person, dabei unterschied er sich durch nichts von den anderen – außer durch sein Selbstmitleid. Er schämte sich. Vor Helen, vor seinen Freunden, vor sich selbst.
    Klasse, Tom, das hast du jetzt davon! Und fang bloß nicht wieder mit deinem Selbstmitleid an, schließlich hättest du dich gut genug kennen müssen, um zu wissen, dass
du
so eine Aktion nicht ungestraft bringen kannst.
    »Sorry, Charlotte, aber ich geh’ jetzt besser.«
    »Hab’ ich dich schockiert?«
    »Nein, nein, das ist es nicht.«
    ***
    Den Sonntag brachte Tom damit zu, wie ein Hund durch die Wohnung zu schleichen, der eine Bestrafung erwartet. Er verstand |112| es nicht: Alle hatten Affären und leisteten sich Seitensprünge, und niemand schien ein Problem damit zu haben – außer natürlich, wenn es herauskam. Warum nur kam er damit nicht klar? Immerhin waren Helen und er acht Jahre zusammen, da durfte so etwas schon mal passieren. »Das glaub’ ich nicht«, hatte Charlotte gesagt, als sie darüber gesprochen hatten, weshalb er noch nie fremdgegangen war. Als müsste man einen Grund haben, es nicht zu tun.
    Tom war einfach bis dahin noch nie fremdgegangen, weil … weil … – und dann kam ihm schlagartig die Antwort, so dass ihm beinahe die Tasse aus der Hand gefallen wäre – weil er sich sonst hätte eingestehen müssen, dass er nicht mehr in Helen verliebt war! Solange er ihr treu war, musste er sich nicht die Frage stellen, ob er sie noch liebte. Das also war es: Er hatte ihre Liebe verraten.
    Die Last seiner Tat streckte ihn auf dem Sofa nieder, und er stand erst wieder auf, als er in der Nacht das Schloss knacken hörte. Er konnte Helen kaum unter die Augen treten. »Jo hanna « musste ihm in flammenden Lettern übers Gesicht geschrieben stehen, jeder Quadratzentimeter seines Körpers nach ihr riechen. Helen stellte die Taschen ab und lächelte erschöpft; die Fahrt war lang gewesen.
    Tom: »Ich dachte, wir trinken noch ein Glas. Ich hab’ eine Flasche kalt gestellt.«
    »Danke, ist lieb von dir, aber ich will nur noch ins Bett.«
    Im Vorbeigehen strich sie über seinen Arm. Kein Kuss, keine Umarmung, auf dem Tisch standen Rosen, die sah sie gar nicht. Sie lag bereits auf der Seite und schlief, als er ins Zimmer kam. Vielleicht. Tom legte sich auf den Rücken und starrte nervös an die Decke. Seine Gedanken beruhigten sich auch dann nicht, als er

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