Sonnenwende
konnten sie ihr gegenüber großzügig sein und sich als gute Menschen fühlen.
Paul und sie waren sechs Jahre zusammengewesen, bevor sie sich letztes Jahr getrennt hatten. Bis heute war keinem von beiden eine brauchbare Erklärung dafür eingefallen. Da jedoch weder Charlotte noch Paul sich seitdem an einer neuen Partnerschaft versucht hatten und sich nach wie vor gut verstanden, schliefen sie an sentimentalen Tagen wieder miteinander. Die mehrten sich in letzter Zeit. Trotzdem bestanden beide darauf, glücklicher zu sein, seit sie sich getrennt hatten, und im Freundeskreis fragte man sich gelegentlich, wo jetzt der Unterschied sein sollte. Ob man eine Beziehung hatte, meinte Lara, hing eben oft genug nur davon ab, wie man es benannte.
Mit der letzten Zeile »Aus aller Welt« erschien Wladimir und ließ sich träge in einen Stuhl fallen.
»Hi.«
Seine Augen lagen im Verborgenen, er hatte die dunkelste Sonnenbrille auf, die für Geld zu haben war. Tom wusste, sie |117| waren rot gerändert von den Ausschweifungen des Vorabends.
Wladimir: »Was?«
Tom musste schmunzeln. Wladimir war ein Ignorant, aber seine Konsequenz verdiente Respekt. Sich nur keine Blöße geben.
»Mit der Brille verpasst du glatt die Sonnenfinsternis.«
»Sind wir heute witzig, ja?«
»Du siehst erbarmungswürdig aus.«
»Nett, dass du es erwähnst, aber ich hab’ mich heute schon im Spiegel gesehen.«
»Durch
die
Brille?«
»Ha-ha.«
So wie Wladimir drauf war, würden sie beim Arbeiten die Minuten zählen.
Tom: »Wir haben noch einen langen Tag vor uns.«
Wladimir drehte den Kopf zur Seite, als hätte Tom ihm Ammoniak unter die Nase gehalten. Sprich bloß nicht
davon
. Charlotte kam und unterzog ihn ihrer Begrüßungsprozedur. Wladimir hielt abwehrend die Hände in die Höhe: »Hör bloß auf mit der Knutscherei, mich selbst zu berühren ist mir heute schon zu viel.«
Sie strich ihm mütterlich über den Kopf.
»Ich bring’ dir erst mal ’n Kaffee.«
»Und ein Wasser mit zwei Aspirin.«
»Und wie steht’s mit dem magischen Wörtchen?«
»Bitte.«
»So ist’s recht.«
Mit einer burschikosen Drehung wandte sie sich vom Tisch ab und verschwand im Café.
»Die bringt mehr Leben an den Tisch, als notwendig wäre.«
Wladimir war mit Freunden ausgewesen, mitten in der Woche. Um sieben erst war er nach Hause gekommen, hatte nur |118| zwei Stunden geschlafen. Dabei war er als Erster gegangen. Irgendwann zwischendrin hatte ihm ein zwanzigjähriges Möchtegernvorabendstarlet eine Unterhaltung aufgezwungen, während der sie ihn ganz euphorisch von ihrer anstehenden Brustvergrößerung in Kenntnis setzte. Von so etwas hielt Wladimir nichts, mit zwanzig schon gar nicht. Frauen sollten von Natur aus schöne Brüste haben. Wenn nicht – also … dann eben nicht. Die Unterhaltung hatte in der Frage gegipfelt, ob er zu dem Vorgespräch nicht mitkommen wolle, um sie in der Größenfrage zu beraten. Dabei war heute erst Mittwoch. Er wusste gar nicht, wie er da das Wochenende überstehen sollte.
Wladimir: »Das muss auch langsam mal aufhören. Meine Güte, ich bin vierunddreißig!«
Er schob die Brille ein Stück die Nase runter, blinzelte Tom aus Augen an, die genauso aussahen, wie Tom es vermutet hatte, und schloss: »Aber nicht vor Montag!«
Mit dem Kaffee besserte sich sein Gemütszustand, die Umwelt schob sich wieder in den Bereich seiner Sinneswahrnehmung.
Wladimir: »Ganz gutes Wetter heute.«
Das war geschönt. Für ein Hitzefrei hätten sie sich das Thermometer unter die Achsel klemmen müssen. Tom tat so, als wisse er nicht, worauf Wladimir hinauswollte.
Wladimir: »Meinst du, wir können unseren Zeitplan noch um einen Tag schieben?«
Es war eigentlich keine Frage, sondern eine Aufforderung an Tom, sich etwas einfallen zu lassen.
»Wir hinken jetzt schon Wochen hinterher.«
»Na, dann kommt es auf einen Tag mehr oder weniger ja wohl nicht an.«
»Ich könnte Tibatong anrufen und ihm sagen, der Kondensator unserer Schleifmaschine sei ›den Weg alles Irdischen‹ gegangen.«
|119| »Tu das«, meinte Wladimir.
»Und? Wie steht’s mit dem magischen Wörtchen?«
»Mein Gott, seid ihr heute anstrengend.«
Keine Viertelstunde später saßen sie im Auto auf dem Weg zum Titisee. So benannt, weil dort Berlins Partyhüpfer auch bei Tageslicht ihre Stärken zeigten.
»Was ist
das
denn?«, fragte Tom, als sie einstiegen, und zeigte auf den Beifahrersitz.
»Meine Badesachen. Hab’ ich vorsichtshalber eingepackt.«
Als
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