Sonnenwende
wurde er zum Spießer erklärt und auf seine Situation mit Helen zurückgeworfen, die er gerade erfolgreich ausgeblendet hatte. Und die Erdbeeren waren auch gleich weg.
Wladimir legte sich auf den Rücken. Seine Augen wurden so vollständig von der Brille abgeschirmt, dass Tom nicht sehen konnte, ob sie geöffnet oder geschlossen waren.
»Es geht los«, murmelte er.
»Was geht los?«
»Die Sonnenfinsternis. Hier, nimm die Brille, dann siehst du es.«
Tom setzte sich die Brille auf und beobachtete, wie der Mond die erste Ecke aus der Sonne herausbiss. Mit bloßem Auge war es nicht zu erkennen. Es sah unheimlich aus. Kein Wunder, dass die Menschen früher angesichts solcher Naturereignisse das Ende der Welt fürchteten.
Er hatte sich eine von diesen Spezialbrillen besorgen wollen, |125| es bei drei verschiedenen Optikern versucht, aber nur müde Blicke und Schulterzucken geerntet. Das Freundlichste, was er zu hören bekommen hatte, war: »Die Leute sind wie verrückt nach den Dingern, als wär’ danach nichts mehr wie vorher.«
Wladimirs Brille aber war selbst einer Sonnenfinsternis gewachsen. Mit ihr hätte man sich in einen Vulkan stürzen können und es nur daran gemerkt, dass es heiß wurde.
Tom: »Was willst du eigentlich mal machen?«
»Was ist denn das für ’ne Frage?«
»Seit über drei Monaten arbeiten wir jetzt zusammen. Meine T-Shirts kann ich gesammelt wegschmeißen, meine Hände sind voller Hornhaut. Die ganze Wohnung riecht nach Holzstaub, sogar meine Bücher. Helen hat schon den totalen Horror. Hast du dich noch nie gefragt, was danach kommen soll?«
»Ich weiß nicht. Wir können gut davon leben, es gibt niemanden, der uns Vorschriften macht …«
»Was ist mit deinem Studium?«
»Was soll damit sein? Es ist gerade achtundzwanzig Semester alt geworden. In dem Alter stirbt man noch nicht.«
»Ich dachte, du hättest es an den Nagel gehängt.«
»Das ist das Schöne an Sachen, die man an den Nagel hängt: Man kann sie jederzeit wieder herunternehmen.«
»Du willst fertig studieren?«
»Sachte, sachte. Im Moment hängt es noch ganz gut.«
»Kann es sein, dass du Angst davor hast, es zu beenden?«
»Angst? Wieso?«
»Du müsstest dich fragen, was du danach machen willst, wie dein Leben mal aussehen soll.«
»Müsste ich das?«
»Job, Beziehung, Kinder – nichts regelt sich mehr von selbst. Es ist nicht wie früher, wir müssen darüber nachdenken, was wir machen wollen, uns entscheiden.«
|126| »Müssen wir das?«
»Ich denke schon.«
»Du denkst immer zu viel.«
Tom erkannte, dass er von Wladimir nur so viel wusste, wie er seit drei Monaten jeden Tag zu sehen bekam.
Tom: »Wie war das denn früher bei dir zu Hause, hat sich da alles von selbst geregelt?«
»Keine Ahnung. An meine Mutter habe ich keine Erinnerung. Sie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, da war ich zwei. Seitdem hat mein Vater immer eine Freundin gehabt, die ihm den Haushalt gemacht hat. Ich bin von mindestens einem Dutzend Frauen großgezogen worden, von den meisten kannte ich bald nicht mal mehr die Namen. Mein Vater übrigens auch nicht, nehme ich an. Wenn es denen dann zu blöd wurde, eine Halbwaise aufzuziehen und nicht geheiratet zu werden, haben sie sich verabschiedet. Für meinen Vater war das okay, glaube ich. Er hat halt immer eine neue gefunden, die den Job gemacht hat. Hätte er mal keine gehabt, hätte er eine Haushälterin eingestellt. Musste er aber nicht.«
»War das nicht komisch für dich?«
»Wieso?«
»Mich wundert einfach, weshalb du dich weigerst, dir Gedanken darüber zu machen, wie du mal dein Leben einrichten willst.«
»Aber ich hab’ mir mein Leben doch eingerichtet.«
»Als Provisorium.«
»Das Leben
ist
ein Scheißprovisorium.«
»Hast du die Art, wie dein Vater gelebt hat, nie hinterfragt?«
»Wozu? Jeder macht es so, wie er meint, es machen zu müssen.«
Damit war das Thema erschöpft. Tom fühlte sich missverstanden. Wladimir machte es sich zu einfach. Diese Das-Leben-ist-wie-es-ist-Einstellung nahm er ihm nicht ab.
|127| Er selbst sah sich als Kind einer klassischen Scheidungsfamilie: Mütter, die Jahre oder Jahrzehnte gebraucht hatten, um gegen ihre Statistenrolle als Hausfrau aufzubegehren, und mehr wollten, als nur zu funktionieren, standen hilflosen Vätern gegenüber, die sich nicht von ihrem Patriarchenposten trennen wollten und nichts begriffen, bevor es zu spät war.
An dem Tag, als Toms Eltern sich trennten, hatte sein Vater mit hündischem Blick
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