Sonnenwende
die von Helen, die plötzlich hinter ihnen stand. Sie hatte zwei Tage frei und offensichtlich erwartet, Tom hier zu treffen. Wladimir und er waren so durch »Süß« und »Saftig« beansprucht gewesen, dass sie ihr Kommen nicht bemerkt hatten. Ein schlechter Start.
Letzte Woche hatten Tom und sie eine Auseinandersetzung gehabt, vorausgesetzt, man konnte es so bezeichnen, denn Auseinandersetzungen mit Helen waren eigentlich keine. Es waren kleine Begräbnisse, bei denen unter allgemeiner |130| Anteilnahme Ängste und Enttäuschungen in einer Gruft des Schweigens versenkt wurden. Das Ergebnis war immer dasselbe: Beide grollten, und nichts war geklärt. Tom war danach so frustriert gewesen, dass er einen müden Augenblick lang gedacht hatte, dies könnte ihre letzte Gemeinsamkeit sein: der Groll.
Helen grüßte Wladimir mit mehr Distanziertheit als notwendig, legte sich neben Tom und gab ihm einen von diesen leblosen Küssen, die sie ihm früher nie gegeben hatte. Als Erstes teilte sie ihm mit, dass sie nur kurz bleiben könne. Sie müsse noch mal ins Krankenhaus, eine neue Behandlungsschiene werde vorgestellt.
»An deinem freien Tag?«
»Ging nicht anders. Der Termin ist kurzfristig angesetzt worden.«
Wozu kam sie dann überhaupt?
»Tut mir leid«, sagte sie, und Tom wusste, es
tat
ihr leid. Nach so vielen Jahren konnten sie jedes Schweigen des anderen deuten. Sie streichelte seinen Arm auf eine Art, die ihm melancholisch vorkam. Als er sie ansah, wurde er von einer Woge zärtlichen Gefühls erfasst, und wieder einmal konnte er nicht verstehen, weshalb sie nicht glücklich sein konnten. Sie sah toll aus heute, frisch und zart, mit diesem natürlichen Schein, der sie manchmal umgab.
Tom verschränkte die Arme hinter dem Kopf und hielt seine Augen geschlossen. Wenn Helen sich jetzt neben ihn legen und ihn berühren würde, dann wäre alles gut, für den Moment wenigstens. Aber sie tat es nicht. Sie hielt ihre Knie umschlungen und blickte auf den See hinaus. Ihre Anspannung infizierte die Umgebung; Tom fühlte es mit geschlossenen Augen. Er versuchte, sich zu entkrampfen, und es gelang ihm, ein bisschen einzudösen.
Entfernt hörte er, wie Wladimir und Helen sich über ihn |131| hinweg unterhielten. Er bekam nicht richtig mit, worum es ging, aber in Helens angestrengt heiterer Stimme schwang ein lauernder Unterton mit. Als er wieder auftauchte, war Helen gerade damit beschäftigt, Wladimir vorzuwerfen, wie unzivilisiert er sei. Es sollte scherzhaft klingen, gelang ihr aber nur halb.
Wladimir: »Ein Mann ist genau in dem Maße zivilisiert, wie er seine naturgegebenen Instinkte unterdrücken kann.«
»Soso. Und was ist mit uns Frauen?«
»Was mit euch Frauen ist?«
Wladimir ließ seinen Blick schweifen und dachte nach. Zwei Sekunden, das war genug.
»Keine Ahnung. Wer soll euch schon verstehen? Nach meiner Einschätzung verstehen die meisten Frauen sich selbst kaum.«
»Wie müsste denn eine Frau idealerweise beschaffen sein?«
Wladimir winkte ab: »Vergiss es. Eine Frau kann nie die Lösung sein, höchstens das Problem.«
»Es gibt sicher Frauen, die das andersherum sehen.«
»Natürlich! Und sie hätten recht. Aus eurer Sicht sind natürlich wir das Problem. Daran kannst du doch schon sehen, was ihr für ein verrücktes Geschlecht seid.«
Helen musste lachen und legte Tom ihre Hand auf den Oberschenkel;
das
war wirklich zu albern.
Manchmal war sie so versöhnlich, dann streifte sie all ihre düsteren Schleier ab und strahlte wie ein Engel. Scheiß auf Johanna, dachte Tom, scheiß auf Elsa, scheiß auf »Süß« und »Saftig« und all die anderen Torten, die da in der Sonne lagen, und scheiß auf … Sandra, ach du Scheiße, die gerade zielstrebig auf ihn zusteuerte, aus Bereich B 2 / C 3, wo er sie unglaublicherweise übersehen hatte. Ihre Augen funkelten entschlossen.
Bei Tom angekommen, stemmte sie eine Hand in die |132| Hüfte, würdigte Helen und Wladimir keines Blickes, und sagte: »Hey, Tom, wie geht’s deiner Leiste? Alles wieder in Ordnung?«
Tom rang um seine Fassung.
»Danke, alles bestens.«
»Schön.«
Sie zeigte jedem von ihnen einmal ihre Zähne, schulterte ihre Tasche und verschwand in Richtung Parkplatz. Helen sah Tom an, als sei zu ihren Füßen soeben ein Meteorit eingeschlagen. Ihre Engelsaura hatte sich augenblicklich verflüchtigt.
»Was war
das
denn?«
Wladimir versteckte sich hinter seiner Brille, blätterte scheinbar unbeteiligt im SPIEGEL und telefonierte mit
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