Sonnenwende
Paul.
Helen: »Also?«
»Das war Sandra. Ich kenne sie eigentlich gar nicht. Hat sich mal auf einer Party lautstark bei Roger über ihre beliebtesten Sexualpraktiken ausgelassen. Ich hab’ ihr gesagt, dass mir vom Zuhören schon die Leiste weh täte, und sie war beleidigt. Das ist alles.«
»Mh … Mit den Leistenschmerzen, die du neulich hattest, hat das nicht zufällig zu tun?«
»Sehr witzig.«
»Findest du?«
»Nein, finde ich nicht.«
»Was machst du?«
»Ich gehe baden.«
»Dein schlechtes Gewissen abkühlen?«
»Auch das ist nicht witzig.«
Das Wetter war nicht so, dass man sich nach einer Abkühlung gesehnt hätte. Tom musste sich überwinden, ins Wasser zu steigen. Auf dem See war nicht viel los. Da, wo man noch stehen |133| konnte, harrte eine ambitionierte Mutter ihrem Kind zuliebe aus und beobachtete, wie ihr kleiner Moppel seine Schwimmente zu ertränken versuchte. Zwei nackte ältere Damen schritten forsch an Tom vorbei, der unentschlossen im Wasser stand, und ließen sich in den See sinken, als hätte er Badewannentemperatur.
»Hui!«, sagte die eine, dann schwammen sie los. Vereinzelt ragten Köpfe aus dem Wasser wie versprengte Tennisbälle, weiter draußen gab es eine Handvoll Hartgesottener, ein Schlauchboot mit sich küssenden Teenagern und eine herrenlose Plastikinsel mit einer lustlosen pinkfarbenen Palme darauf. Tom hechtete ins Wasser und kraulte auf den See hinaus, bis sein Kopf einer von den verschlagenen Tennisbällen war. Aus der Entfernung sah die Liegewiese richtig beschaulich aus. Er entdeckte Helen und Wladimir, die sich wieder unterhielten. Am Ufer stritten sich zwei Hunde um einen leblosen Ball, und eine Gruppe Jogger schob sich langsam durch das Bild.
Tom tauchte mit geschlossenen Augen, bis ihm die Luft ausging. Jetzt ein Fisch sein! Dann hätte er stundenlang unter Wasser bleiben können und erst wieder auftauchen müssen, wenn alle gegangen waren. Einmal. Einmal in acht Jahren! Und dann so was. »Wie geht’s deiner Leiste?« Und Helen saß daneben. Tauch! Tauch unter, Tom. Tauch und werd ein Fisch.
Als er zum zweiten Mal in die kälteren Schichten hinabglitt, sah er im trüben Dunkel des Wassers plötzlich eine Schwanzflosse vor sich aufblitzen und gleich darauf wieder verschwinden. Dann gleich noch einmal – auf der anderen Seite, und näher. Ein riesiger Fisch musste ihn umkreisen, ein Wels vielleicht. Tom dachte schon, dass er wieder in die tieferen Regionen des Sees abgetaucht sein musste, als er wie aus dem Nichts frontal auf ihn zukam; vor Schreck vergaß Tom, dass ihm die Luft ausging. Und dann erkannte er, dass es |134| gar kein Fisch war, sondern … eine Nixe! Eine Seejungfrau mit einem Schwanz wie ein Fisch und einem Gesicht wie … Johanna!
Sie schwamm ganz nah an ihn heran, bis sich beinahe ihre Gesichter berührten; ihre Haare schwebten um ihren Kopf, und ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie sah ihm kurz in die Augen, als frage sie sich, was dieser komische Mensch hier unten wohl zu suchen habe, und war im nächsten Moment wieder verschwunden. Als Tom auftauchte und nach Luft japste, hatte er Sternchen vor den Augen.
Er zog noch ein paar Kreise, und das rätselhafte Bild verflog wie ein Traum. Schweren Herzens, und noch immer etwas benommen, schwamm er zurück.
Wladimir war vollauf damit beschäftigt, von der Anziehungskraft des rothaarigen Sommersprossenmodels zu schwärmen, das zwei Handtücher weiter lag: »Mein Gott, ist die süß«, sagte er, und – so säuerlich, wie Helen das Gesicht verzog – wahrscheinlich nicht zum ersten Mal.
»Schon, aber etwas klein, findest du nicht? Außerdem reden die zwei
nur
dummes Zeug. Seit ich hier bin, sind die am Schnattern, und nichts von dem, was ich gehört habe, hätte einen von uns in den letzten zehn Jahren interessiert.«
»Na und? Die interessieren sich in dem Alter eben für andere Dinge, ist doch okay. Als ich so alt war, hab’ ich bei den teuren Autos durch die Scheibe geglotzt, um zu gucken, was auf dem Tacho steht.«
»Und da willst du wieder hin?«
»Du bist doch nur neidisch.«
»Auf ihre Jugend? Ja, etwas vielleicht. Aber das Privileg der Jugend ist kurz und …«
»… unersetzbar.«
»… trügerisch.«
»Ach ja?«
|135| »Ja. Es verstellt den Blick auf das Wesentliche. Du bist doch das beste Beispiel: Du bist so auf Jugendlichkeit ausgerichtet, dass du deine diffusen Bindungsängste gar nicht bemerkst. Warum versuchst du es zur Abwechslung nicht mal mit
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