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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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hätte Tom klar sein müssen, dass sie heute nicht arbeiten würden.
     
    Der See war idyllisch in ein Waldstück eingebettet. Die Liegewiese hatte die Größe eines Fußballfeldes, zum Wasser hin verlief sie abschüssig, in der Mitte hing sie etwas durch. An den Längsseiten wurde sie von Wegen eingeschlossen, die vorzugsweise von Joggern und Spaziergängern genutzt wurden, die den See umrundeten. Die Plätze zwischen J 7 und O 10 boten die beste Übersicht, dafür lag man dort abschüssig.
    Als Tom und Wladimir eintrafen, herrschte trotz des eher mittelmäßigen Wetters bereits reges Treiben – es waren Semesterferien. Wladimir entschied sich für einen Platz auf M 8. Nachdem sie ihre Positionen bezogen hatten, begann Tom, im SPIEGEL zu lesen. Wladimir breitete die Zeitung vor sich aus, doch das war nur eine Scheintätigkeit: In Wirklichkeit überwachte er die Bewegungen auf den Planquadraten wie ein Feldherr.
    Wladimir: »Seit zehn Minuten versuche ich jetzt, diesen Artikel zu lesen, aber ständig werde ich gezwungen, nach Gesundheit atmenden Körpern zu glotzen. Erniedrigend ist das!«
    »Gesundheit atmende Körper« – es war nicht anzunehmen, dass es auf der großen weiten Welt noch etwas gab, das in Wladimir eine solch metaphorische Kraft entfachen konnte.
    |120| »Wenn das ein Problem für dich ist, warum suchst du dir nicht ein einsames Plätzchen da vorne hinter der Biegung?«
    »Bist du wahnsinnig? Wie sollte ich mich da auch nur eine Minute konzentrieren können, wo hier der große Jungfernauflauf stattfindet. Feste, wohlriechende, appetitliche Brüste, perfekt gebräunte Rücken mit einem seidigen Flaum im Lendenbereich, schlanke, wohlproportionierte, glatte … o Mann, ich muss ins Wasser.«
    Tom schaute ihm nach, wie er zum Wasser hinabschlenderte. Sehr lässig. Auf halbem Weg bemerkte Wladimir, dass er seine Brille noch aufhatte, machte kehrt und kam zurück mit einem Gesicht wie Stan Laurel, wenn er sich den Kopf kratzte. Ein anderer hätte jetzt gesagt: »Hab’ ich glatt vergessen.« Nicht so Wladimir, für den gab es immer einen Schuldigen: »Hättest ja mal was sagen können.«
    Die Luft, die aus dem Wald drang, war noch kühl. Ein gelegentlicher Windstoß stellte Tom die Haare auf, aber er widerstand der Versuchung, etwas überzuziehen. Er genoss die Freiheit, tatsächlich sagen zu können: Komm, scheiß auf die Kohle für heute, der Tag ist zu schön, um Dielen abzuschleifen. Dieses Privileg war unersetzbar.
    Helen hätte es lieber gesehen, wenn Tom bei der Wahl seiner Jobs mehr Zielstrebigkeit und Durchhaltevermögen an den Tag gelegt hätte, statt sich wahllos von Job zu Job zu hangeln. Von Lara hatte er erfahren, dass Helen sich darüber beschwert hatte, dass er seine Jobs auflese, »wie andere einen Stein aufheben«. Er sagte es Helen nicht, weil sie dann beleidigt gewesen wäre – schließlich arbeitete sie nicht ohne Grund seit acht Jahren im selben Krankenhaus –, aber er mochte das Bild: Eine Straße, die hinter einem entfernten Hügel ins Ungewisse verschwand, und manchmal hob er auf seinem Weg einen Stein auf und steckte ihn ein, bis er ihn lange genug mit sich herumgetragen hatte und gegen einen anderen austauschte.
    |121| Tom: »Wie war das Wasser?«
    »Kalt genug, um meine Kopfschmerzen zu besiegen. Und meine Geilheit. Fürs Erste.«
    Zwei Frauen schlenderten gekonnt den unteren Weg entlang, blieben stehen und prüften mit ihren Blicken die Liegewiese auf freie Plätze. Beide trugen Schuhe mit unsinnig hohen Absätzen, auf denen sie sich erstaunlich sicher fortbewegten – der Weg war steinig. Die eine, Mimi, war sehr blond, ihre Begleiterin Elsa brünett. Ihre Haare hatten sie sich mit unübersehbaren Sonnenbrillen aus dem Gesicht geschoben, die sie auf dem Kopf trugen wie Diademe.
    Wladimir duckte sich, als er sie sah. Lieber hätte er den Stuck in Tibatongs Wohnung mit der Zahnbürste freigelegt, als an einem solchen Tag mit Elsa konfrontiert zu werden. Ihre Kontaktlinsen lagen noch in seinem Bad. Dort lauerten sie jede Nacht in ihrem durchsichtigen Behälter und warteten darauf, dass er morgens ins Bad kam. Sie hielten den Platz zwischen seiner Elektrozahnbürste und dem Aftershave besetzt und schienen ihn aus ihren schalenförmigen Käfigen heraus zu beobachten. Wladimir hatte sie schon oft in einer Schublade verschwinden lassen wollen, aber irgend etwas hatte ihn immer davon abgehalten.
    Wladimir: »Schöne Scheiße.«
    »Was ist?«
    »Da drüben sind Mimi und

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