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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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neben dem Auto gestanden und darauf gewartet, dass sie endlich abfahren würden. Tom saß auf der Rückbank, Mutter weinte am Steuer. Sie waren auf dem Weg in eine andere Stadt, in ein neues Leben. Vor der Abfahrt steckte sein Vater ihm noch etwas durch das geöffnete Fenster zu: einen grünlichen Stein, der glattgeschliffen war und poliert. Er hatte die Form eines Eis und lag schwer in Toms Hand.
    »Siehst du den schwarzen Punkt hier?«
    Vater drehte den Stein so, dass Tom die Stelle sehen konnte. Er nickte.
    »Das ist sein Herz. Er hat ein trauriges Herz, du musst ihn trösten.«
    Tom wusste nicht, was sein Vater damit meinte. Einen Stein trösten? Ein Stein hatte kein Herz, das war gelogen. Ein Stein war ein Stein. Wahrscheinlich wollte er Tom damit etwas sagen, aber was? Nie konnten die Erwachsenen sagen, was sie meinten, immer blieb etwas unausgesprochen. Tom verstand das nicht. Er nahm sich vor, Vater danach zu fragen, aber nicht jetzt – Mama weinte zu sehr. Als sie sich jedoch das nächste Mal sahen, waren sieben Jahre vergangen, und Tom hatte die Frage nach dem Stein, wie so viele andere Fragen auch, längst vergessen oder sich die Antworten selbst gegeben.
     
    »Jeder macht es so, wie er meint, es machen zu müssen« – während der Mond sich langsam vor die Sonne schob, ging Tom immer wieder Wladimirs Satz durch den Kopf. Und als |128| es plötzlich kühl wurde und der Himmel sich verfinsterte, weil die Sonne fast vollständig in den Mond eingetaucht war, begann er zu verstehen, dass das Bild einer intakten Familie eine Sehnsucht war, mit der er seit der Scheidung seiner Eltern jeden Morgen aufstand und die er jeden Abend mit ins Bett nahm. Und während auf der Wiese alle ihre Spezialbrillen aufsetzten und die Köpfe in den Nacken legten, starrte Tom auf den See hinaus und fing an zu weinen, und er war froh, dass niemand bemerkte, wie er auf dem Handtuch saß und die Tränen seine Wangen hinabliefen, weil alle mit dem Finger in den Himmel zeigten, als wären da oben zehn Sonnen, zwischen denen man sich entscheiden müsste. Besonders froh war er, dass Wladimir es nicht mitbekam; der hätte gar nichts kapiert.
    Seit seinem Gespräch mit Lara, bei dem sie ihm gesagt hatte, dass es vielleicht ganz gut wäre, wenn Helen und er sich trennten, weil Helen dann endlich keine Angst mehr haben müsste, hatte Tom nicht aufhören können, darüber nachzudenken, weshalb er so krampfhaft an ihrer Beziehung festhielt, und langsam dämmerte ihm, dass es nicht so viel mit Helen zu tun haben könnte, wie er glaubte, sondern dass es die Idee ihrer Beziehung war, die er nicht loslassen konnte – und dass er und Helen diese Idee vielleicht niemals würden verwirklichen können.
     
    Nach zehn Minuten war das Spektakel vorbei, das Licht wieder an und Toms Tränen versickert. Die Liegewiese hatte sich gefüllt wie ein Konzertsaal, bevor der Maestro auf die Bühne kam. Freie Plätze waren rar geworden.
    Zwei Frauen betraten die Bildfläche, nicht älter als sechsundzwanzig. Für Wladimir ein magisches Alter. Den Kinderschuhen entwachsen, aber noch unbekümmert, frisch und lebenshungrig. Die beiden Zauberwesen besiedelten einen Platz |129| auf NO 7, kaum fünf Meter von Tom und Wladimir entfernt. Als die Rothaarige mit dem lächelnden Sommersprossengesicht ihren Rock abstreifte, unter dem sie bereits ihre Badehose trug, und sich voller Anmut das T-Shirt über den Kopf zog, musste Wladimir schlucken, und Tom meinte für einen Moment seine Brillengläser beschlagen zu sehen. Die Dunkelhaarige war weniger grazil gebaut, wirkte dafür aber um so lebendiger.
    Tom kam Wladimirs Ausspruch von vorhin wieder in den Sinn: »Gesundheit atmende Körper« – sollte keiner sagen, er wüsste nicht, wovon er sprach. »Süß« und »Saftig«, dachte Tom und schämte sich etwas.
    »Die sind aus dem Lette-Verein«, flüsterte Wladimir.
    Ein Gütesiegel. Schon Tucholsky soll den Ausspruch geprägt haben: »Willst du eine nette fürs Bette, geh zu Lette.« Wenn Tom und Wladimir nicht gerade am anderen Ende der Stadt arbeiteten, gingen sie in der Mensa der traditionsreichen Modeschule Mittag essen. Zwölf Uhr, Lette-High-Noon, der einzige Termin, zu dem Wladimir nicht zu spät kam. Seine Tage schichteten sich darum wie Artischockenblätter um ihr Herz. Um halb eins kamen die MTA-Azubis, dann gaben die Designerinnen ihr Besteck ab, und das Essen schmeckte nur noch halb so gut.
    »So, aus dem Lette-Verein also?«
    Das war nicht Toms Stimme, sondern

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