Sonnenwende
durchs Treppenhaus gepoltert. Ada dachte schon, er sei betrunken, bei dem Krach, den er machte. Sie war zur Tür gerannt, um nach ihm zu sehen, ihn zu fragen, ob alles in Ordnung war, ob er Hilfe brauchte. Mein Gott, war sie naiv! Durch den Spion sah sie, dass er Krücken hatte und auf der Treppe gestürzt sein musste. Er saß auf der obersten Stufe und lachte, und dann war da plötzlich diese Frau, die sich neben ihm auf den Treppenabsatz fallen ließ und ebenfalls lachte, dass es den ganzen Hausflur ausfüllte. Wie konnte eine Frau sich nur so gehenlassen?
|205| »Nicht so laut, sonst hört dich meine Nachbarin.«
»Na und?«
»Das würde sie voll desillusionieren. Die hält mich für einen Heiligen. Sie glaubt sogar, ich kann Klavier spielen.«
»Wie hast du das denn angestellt?«
»Erzähl’ ich dir später.«
Dann konnte Ada sie über sich hören, durch die Decke, am hellichten Tag. Ein Alptraum! Das waren nicht die Geräusche von Liebenden, sondern von Menschen, die sich Schmerzen zufügten. Furchtbare Schmerzen. Wie damals. Sie hatte geschrien. Wie ein Tier hatte sie geschrien, wie ein Schwein, bevor man ihm die Kehle durchtrennte. Es war entsetzlich. Seitdem wusste Ada, dass man niemanden zu dicht an sich herankommen lassen durfte. Seit damals. Seit sie diese Kopfschmerzen hatte.
Es ging alles durcheinander. Sie konnte sich das doch nicht nur ausgedacht haben! Sie liebte ihn doch. Und er, was machte er? Er …
fickte
mit irgendeiner dahergelaufenen Schlampe. Das konnte doch unmöglich ihr Wladimir sein, der nach den Sternen griff! Und wieso konnte er nicht Klavier spielen? Sie begriff das alles nicht. Immer war
sie
diejenige, die den Kürzeren zog, diejenige, der andere vorgezogen wurden. Immer waren andere besser … in jeder Hinsicht … dabei liebte sie ihn so sehr … Tränen liefen ihre Wangen hinab, immer mehr und immer mehr.
Vielleicht war es gut so. Die andere war hübsch, im Gegensatz zu ihr. Ada war nicht schön, auch wenn der Mann am Kiosk ihr das mal gesagt hatte. Das war nur ein Moment. Jeder konnte einen Moment lang gut aussehen, auch wenn er wirklich nicht hübsch war. Und die andere war normal, nicht so wie Ada. Ada war krank … verrückt … kaputt. Wer wollte so etwas? Sie konnte ihm nicht übelnehmen, dass er dieses gackernde Huhn wollte und nicht sie. Gefühle konnte man |206| nicht steuern, das war eben so. Und Ada war nun mal nicht liebenswert, da konnte Wladimir auch nichts für. Warum sollte ausgerechnet sie geliebt werden, das hatte sie gar nicht verdient. Am liebsten hätte sie geschrien: »HILFE!! ICH WILL MEINE RUHE!!! ICH WILL ALLEIN SEIN!!!!«
Dabei war Alleinsein doch das wenigste, was sie wollte. Aber im Moment, da wollte sie es, da wollte sie nur IHRE RUHE!!! Immer diese Zerrissenheit … Genau wie bei der Zärtlichkeit … Sie wollte Liebe, sie sehnte sich so sehr danach, Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit, kindliche Zärtlichkeit. Und doch durfte niemand sie berühren. Bei Wladimir, da wäre es gegangen, aber jetzt … Nie wieder!
Sie lief in die Kammer und zerrte die Leiter hervor, noch immer rannen Tränen über ihr Gesicht. Nacheinander riss sie alle Phosphorsterne von der Decke und das blöde Raumschiff auch, über ihr gluckste und quiekte und schrie es. Wie hatte sie nur so … BLÖD sein können? Hatte Ada sich wirklich eingebildet, er könnte sie lieben? SIE?
SIE!!??
Dumme Gans. Du lebst in einer Traumwelt. Immer lebst du in einer Traumwelt!
Sie spürte ihre Kopfschmerzen herannahen wie ein Donnergrollen, das ein Gewitter ankündigte. Ada konnte sie förmlich sehen, wie sie auf sie zugerast kamen. Was sollte sie bloß tun? Gleich würden die Kopfschmerzen sie niederdrücken, dann konnte sie doch nicht hier auf dem Bett liegen und sich dieses GEBRÜLL ANHÖREN! Schnell zog sie ihre Schuhe an und nahm den Schlüssel. Auf jeder x-beliebigen Parkbank war es besser als hier. Hier würde sie den Tag nicht überstehen. Sie schlug das Messer in den blauen Samt ein, steckte es in ihre Handtasche und floh aus der Wohnung.
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|207| Alles auf Anfang
Tom hatte Kontakte aus seiner Studienzeit aktiviert und arbeitete wieder als Barpianist. Montags und freitags spielte er im Meyerbeer, donnerstags und samstags im Wash Up. Irgendwann hatte er gemerkt, dass man in dieser Stadt nirgends besser allein sein konnte als unter Menschen, und lange Stunden in Bars zugebracht, in denen er vor seinen Freunden sicher war, um das nächtliche Treiben an sich vorbeiziehen zu
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