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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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lassen. Von dort zurück zum Klavier war es dann nur noch ein kleiner Schritt gewesen.
    Im Meyerbeer bestand das Publikum hauptsächlich aus Theaterbesuchern, die sich bei anschließendem Weißwein über die Bühnendekoration unterhalten wollten, da wärmte er sein klassisches Repertoire auf. Im Wash Up spielte er, was ihm gerade einfiel.
    Anfangs tat er sich schwer. Er war aus der Übung, seine Finger steif und mit Hornhaut überzogen, durch die monatelange Arbeit mit Schleifmaschinen aller Art. Doch inzwischen waren acht Wochen vergangen, und seine Finger hatten ihre alte Beweglichkeit wiedererlangt. Er fühlte sich sogar noch wohler als früher.
    Helen hatte seinen Bar-Jobs immer mit einer Mischung aus Bewunderung und Missbilligung gegenübergestanden. Das hatte ihn stets gehemmt. Langsam erst verstand er, wie viel Spaß er daran haben konnte, und er druckste auch nicht mehr herum, wenn er gefragt wurde, womit er sein Geld verdiente. In der ersten Zeit hatte er seinen Zuhörern das Leben ganz schön schwergemacht. Wochenlang hätte er nur »My Funny |208| Valentine« spielen können, mit einer endlos ins trostlose Reich der Melancholie absteigenden chromatischen Basslinie. Wenn er etwas anderes spielte, hörte es sich trotzdem so an. Am vierten Oktober, seinem ersten Tag im Wash Up, kam ein junger Mann ans Klavier, der mit Freunden auf seinen Geburtstag anstoßen wollte.
    »Warum spielst du nicht mal was Fröhliches?«
    »Ich kann nichts Fröhliches.«
    »Was soll das heißen, du kannst nichts Fröhliches?«
    »Ich hab’s probiert, es geht nicht. Auch ein fröhliches Stück klingt traurig, wenn ich es spiele.«
    Inzwischen musste Tom schmunzeln, wenn er daran zurückdachte, es kam ihm so theatralisch vor. Aber so hatte er sich eben gefühlt – theatralisch. Ein Dialog aus der Muppet-Show war ihm aus seiner Kindheit in Erinnerung geblieben. Der ging ähnlich:
    Kermit: »Floyd, was spielst du da?«
    Floyd zupft schwermütig an seinem Bass: »Ich spiele Blues.«
    »Warum spielst du Blues, Floyd?«
    »Weil ich traurig bin.«
    »Aber Floyd, warum bist du traurig?«
    »Weil ich Blues spiele.«
    Manchmal telefonierte er mit Helen. Oft ging es ganz gut. Sie fehlte ihm nicht mehr. Meistens. Das Gefühl war stumpf geworden mit der Zeit. Er aß auch wieder, sein altes Gewicht lag nur noch vier Kilo entfernt. Ihr neuer Freund war bei ihr eingezogen – Klaus. Ein Arzt aus dem Krankenhaus. Es war sehr schnell gegangen. Tom hatte nicht einmal Zeit gehabt, vorher seine letzten Sachen abzuholen. Vielleicht hatte Klaus auch bereits in den Startlöchern gestanden. Tom versuchte, nicht darüber nachzudenken, das zog ihn nur runter und führte zu nichts.
    |209| Schwierig war es immer dann, wenn es Helen schlechtging. Dann rief sie an und sagte ihm, dass sie nie aufgehört habe, ihn zu lieben, und nicht begreifen könne, weshalb es mit ihnen nicht funktioniert habe. Was sollte er ihr antworten? Er hatte es schließlich auch nicht begriffen.
    Seine Stereo-Anlage und drei Kartons mit Büchern warteten noch immer auf ihn, deshalb hatte Tom die Schlüssel bisher nicht zurückgegeben. Da er Helen und sich eine Konfrontation ersparen wollte, ging er am Vormittag vorbei, um elf. Zu dieser Zeit arbeitete sie. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, kam eine euphorische Männerstimme aus der Küche: »Was machst
du
denn schon hier?«
    Und plötzlich stand Klaus vor ihm, in Calvin-Klein-Boxershorts, mit einer von zwei Lavazza-Tassen in der Hand, die Tom Helen vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie benutzten sie im Epikur, Helen fand, es konnte keine schöneren geben. Tom hatte erfolglos versucht, sie irgendwo aufzutreiben, also hatte Charlotte sie für ihn mitgehen lassen.
    Klaus sah aus wie ein Würstchen. Bestimmt fand er sich auch noch sexy. Sein Rücken und seine Schultern waren behaart, dabei hatte Helen immer gesagt, behaarte Männer gingen »gar nicht«. In seinem weißen Kittelchen mochte er Autorität ausstrahlen, aber in dieser Aufmachung … Und dann auch noch dieser Schmalzblick, der so pointiert von seiner zur Seite geschobenen Tolle abgerundet wurde. Sie standen sich gegenüber, und Tom überlegte einen Moment, ob er ihn nicht niederschlagen sollte – einfach so. Wie es sich anfühlen würde, wenn er ihm jetzt ohne Ankündigung seine Faust ins Gesicht drückte? Ginge es ihm danach besser? Wäre es eine Erleichterung? Vielleicht. Vielleicht würde er sich auch nur blöd vorkommen.
    Er war nicht einmal zornig oder

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