Sonntag bis Mittwoch
bis der Schmerz allmählich in den Armen hochstieg. »Wir müssen uns an die Wahrheit halten.«
Wahrheit. Weißte, was die Leute glauben, Paps? Was sie glauben wollen, kapito?
»Ich lüge nicht«, protestierte Colin Welch, nicht mehr so selbstbewußt wie zuvor. »Mr. Gray –«
Lee Gray stand auf. »Natürlich nicht, Colin. Sie entsinnen sich genauer, das ist alles – mit Perspektive.«
… zu einer bestimmten – Perspektive nennt man es wohl – zu gelangen, über mich, über dich, über uns.
»Wie viele Schnäpse haben Sie vor dem Unfall getrunken?« erkundigte ich mich, Lee Gray bewußt ignorierend und Lydias rätselhafte Bemerkungen von mir schiebend.
Colin Welch schaute – fast hilfeflehend – zu Lee Gray. »Das habe ich nur vergessen, seinerzeit.«
»Aber als Sie Mr. Gray erinnerte, fiel es Ihnen wieder ein, weil er auf einige Beweismittel gestoßen war.«
»Hören Sie, ich stehe hier nicht vor Gericht. Sie sind angeblich mein Anwalt – nicht mein Richter.«
»Ja«, sagte Lee Gray, »was für ein Recht haben Sie, über diesen Mann zu urteilen?«
Ich lehnte mich zurück. Das war eine gute Frage. All die angehäufte Schuld überfiel mich wieder, schwächend, unausweichlich, vernichtend.
»Gratuliere«, wandte ich mich an Lee Gray.
»Das verstehe ich nicht ganz, Adam.«
»Ich glaube schon.«
Warum sollte ich ihn mit der Nase darauf stoßen, daß auch Colin Welch beeinflußbar war – so weit, daß er seine Aussage änderte, seine Erinnerung fälschte! Warum sollte ich mir die Mühe machen? Worum drehte sich das ganze Wortgefecht überhaupt? Um Wahrheit. Wilby hatte recht. Gesetz, Wahrheit, die Natur des Menschen – recht hatte er. Und zum Teufel mit allem!
Der Rauch wirbelte in Schwaden, stieg mir in die Nase, benebelte meinen Kopf, legte sich mir auf den Magen; mir wurde wieder übel.
»Ich glaube, Sie sollten diesen Fall ganz übernehmen«, sagte ich zu Lee Gray und hörte meine Müdigkeit, meine betäubte Resignation. »Sie sind dazu besser … geeignet.«
Colin Welch erhob sich, seufzte tief und blies Rauch von sich. »Na, ich muß zugeben, daß mich das sehr erleichtert.«
Macht, daß ihr 'rauskommt! Alle beide! Schert euch fort!
»Das war von Anfang an mein Vorschlag«, sagte Lee Gray, und ich hörte wohl die Verachtung heraus, die unausgesprochene, höfliche Andeutung, daß ich entweder alt wurde oder nervlich der Sache nicht gewachsen war. Henry hatte ihm also alles erzählt! War von meinem Büro aus direkt zu diesem hinterhältigen, unanständigen, cleveren Jungen gelaufen und hatte mein Vertrauen mißbraucht!
»Mr. Wyatt«, sagte Colin Welch nachdrücklich und etwas verstört. »Ich halte es wirklich für das beste, weil Sie mich durcheinanderbringen, und Mr. Gray nicht. Und, wissen Sie … meine Frau verliert anscheinend allen Respekt vor mir. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll – und warum ich überhaupt eine Erklärung abgebe. Aber … was sie denkt, ist für mich sehr wichtig. Ob Sie es glauben oder nicht, aber ich gehöre zu den Männern, die ihre Frauen lieben. Und was sie von mir hält, ist mir wichtiger als mein eigenes Urteil über mich. Und – na, das wollte ich nur sagen. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen.« Er wandte sich ab und marschierte mit Lee Gray, der ihm die Tür aufhielt, hinaus.
Hinter Colin Welchs Rücken hob Lee Gray die Augenbrauen, zuckte übertrieben und plump vertraulich die Achseln, amüsiert und erstaunt, als wollte er sagen: Was soll das nun wieder heißen. Dann folgte er ihm und schloß die Tür.
Und was sollte es heißen? Daß Colin Welch trotz seiner widerlichen Schwäche und seiner Bereitwilligkeit, die Wahrheit für seine Zwecke zu verdrehen, doch entgegen meinen Erwartungen genau wußte, was er wollte. Und daß er sein Motiv kannte: Zuneigung zu seiner Frau. Und daß er es auf sich nahm, freiwillig und leidenschaftlich, zu lügen und mit dieser Lüge zu leben. Um ihretwillen? Um seinetwillen? Aus Liebe? Liebe existierte also doch noch?
Also, was hätte ich tun sollen? Die Wahrheit sagen? Worüber, Anne? Ach ja, deine Jungfräulichkeit, als du heiratetest. Oder ihr Fehlen. Ihre Lüge Glenn gegenüber. Wenn ich es unterlasse, ist es das gleiche, als wäre mein Leben eine Lüge, nicht wahr? Ja, Anne, aber verstehst du nicht? Du mußt bereit sein, zu lügen, um überhaupt leben zu können. Um zu überleben. Verstehst du, Liebes? Du mußt notfalls mit einer Lüge leben – wenn die Wahrheit jemand verletzen
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