Sonntag bis Mittwoch
Realität, als alles, was ich sehen oder denken oder fühlen kann, vielleicht ist Realität an sich in –
Großer Gott, ich versande schon wieder. Was bedeutet es, wohin bringt es mich, was passiert, ich will beten, ich kann nicht beten, ich habe es verlernt, und wie kann man beten, wenn man nicht weiß, zu wem, zu was, wer soll zuhören, aber irgendwer muß helfen, es muß doch jemand geben –
Eine Stimme. Nahebei. Spricht in einer mir unverständlichen Sprache. Bilde ich mir das ein?
Ich zwinge mich, die Augen aufzuschlagen. Wann sind sie mir zugefallen?
Vor mir schwebt ein Gesicht, dahinter schimmert die Sonne. Ganz allmählich sehe ich es schärfer: ein Fremder, alt, mit schwarzem Bart, runzliger Haut, dunklem Teint unter der Blässe. Er trägt einen steifen schwarzen Hut. In seinen dunklen Augen quillt Mitleid auf, eine seltsame, staunende persönliche Fürsorge, die sofort mein klopfendes Herz und meinen rasenden Pulsschlag beruhigt und sogar den kalten Schweiß trocknet.
Er regt sich nicht. Im Banne des Augenblicks kann ich es auch nicht. Das Mitgefühl in seinen Augen ist bodenlos, die Güte fast verzweifelt. Er spricht, aber ich verstehe die Worte nicht: es könnte deutsch sein. Ein hilfloser Ausdruck tritt in seinen Blick. Er hebt wieder an, streckt eine Hand aus, als wolle er mich berühren.
Im gleichen Moment, als mich sein Trost erreicht, wallen Tränen hinter meinen Augen auf. Und ich möchte ihm gern versichern: »Es geht schon besser.« Ich quetsche es heraus. Ich richte mich sogar auf, stütze mich nur noch mit einer Hand an den Zeitungsstand. »Vielen Dank, aber es ist … schon wieder gut.« Ich lasse die Wand los und streiche mein Jackett glatt, versuche zu lächeln. »Danke schön.« Mehr fällt mir auf deutsch nicht ein.
Doch ihn überzeugt es nicht. Er schüttelt den Kopf, noch immer Sympathie und instinktives Einfühlen im Blick – und hilflose Auflehnung. Seine Lippen bewegen sich in dem schwarzen Bart. »Jiddisch?« fragt er, noch immer hoffnungsvoll.
»Mazel tov« – ich höre die Worte, noch ehe mir bewußt wird, daß ich sie sage. Und ich weiß nicht genau, was sie bedeuten.
Einen Moment scheint er verblüfft, dann erhellt Heiterkeit seine Züge. »Mazel tov!« wiederholt er, spöttisch und gleichzeitig entzückt. »Mazel tov!« Und er lacht.
Das Lachen löscht den indifferenten Lärm der Straße aus. Ein anderes Gesicht projiziert sich über seines: das von Professor Kantor. An den ich in den letzten beiden Tagen verschiedentlich gedacht hatte und der zuvor fast in Vergessenheit geraten war. Professor Bernard Kantor – die gleichen Augen, die gleiche Freude und Trauer darin.
Und dann verstummt das Lachen. Unsere Blicke treffen sich wieder. Und dieser Fremde ist es, nicht Professor Kantor, dem ich die Hand hinstrecke, wissend, wie selten im Leben diese Geste von Bedeutung ist.
Er blickt darauf – sieht er die Kratzer, das geronnene Blut? Dann schaut er mir wieder in die Augen und ergreift meine Hand. Sein Griff ist erstaunlich fest, und mir scheint, als ströme etwas von seiner pulsierenden Kraft auf mich über.
»Danke schön, Sir.« Es ist das beste, das ich ihm bieten kann.
Er läßt meine Hand los und tritt zurück. Dann macht er eine höfliche Verbeugung, als wäre er selbst erleichtert, eine anmutige und würdevolle Verneigung, die trotz seiner schäbigen Kleidung und abgetragenen Schuhe, sogar in der hektischen Betriebsamkeit dieser Straßenecke, nicht unpassend wirkt. Als sei er nun zufrieden, wendet er sich ab, während in mir plötzlich das Gefühl eines Verlusts aufsteigt: Ich werde diesen Mann niemals wiedersehen oder kennenlernen. Ich schaue ihm nach: einer der vielen armseligen Juden in den Straßen New Yorks. Während seine Gestalt in der Menge untertaucht, sehe ich die Geschichte seines Volkes vor mir erstehen: unerwünscht, jahrhundertelang, durch die Wüste wandern, versklavt, heimatlos, suchend, unter unvorstellbaren Lasten weiterschreitend, die Melancholie immer von Humor gemildert, mit angeborener Würde, die aus Schmerzen und Wissen um den Menschen erstand.
Doch … doch er blieb stehen. Der Mensch ist das grausamste Tier, aber er blieb bei mir stehen. Und weil er bei mir verweilte, kann ich nun weitergehen.
Ich schaue auf die Uhr. Elf Minuten bis zur Verabredung im Restaurant. Ich lese das Straßenschild. Wie bin ich hierher geraten? Nur noch ein paar Häuserblöcke weit. Mit einem Gefühl der Erneuerung und Dankbarkeit bei schwindenden
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