Sonntag bis Mittwoch
so vieles Interessante und Lebenswichtige nie gesprochen hatten. Ich weiß nicht, wieso mich manchmal das Bedürfnis überfällt, in die Kirche zu gehen. Wann hatte sie das gesagt? Ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört, zu versunken in die Trivialitäten des Augenblicks. Vielleicht ist es nur eine eingefleischte Gewohnheit. Oder ein kindliches Sehnen nach Sicherheit. Was hatte ich geantwortet? Oder eine Hoffnung auf Antwort. In den Büchern heutzutage zerbricht sich anscheinend niemand mehr den Kopf über das Warum. Und ich hatte diese Bücher nicht einmal gelesen. Hatte weder erkannt noch geahnt, daß sie vielleicht unter einem schmerzlichen und dringenden Bedürfnis litt, zu wissen, sich auszusprechen, Hilfe zu finden, Klarheit zu erhalten.
Erstaunlich. Verblüffend und fürchterlich: daß all dies sich vor meiner Nase abgespielt hatte, ohne daß ich es merkte. Erstaunlich und … auch schrecklich.
Der Summer. Endlich.
»Ja?«
»Das Fernamt sagt, es wird mindestens zehn Minuten dauern, Mr. Wyatt, die Leitungen sind überlastet.«
Zehn Minuten. Eine Ewigkeit. Auf meiner Uhr war es zwei Minuten nach zwei. Noch eine knappe halbe Stunde, bis der Scheck kam. »Danke, Phoebe.« Und ich fragte mich, was sie wohl empfand, als sie das Gespräch mit Lydia anmeldete, wie sie sich in den ganzen Jahren gefühlt hatte: elend, von Eifersucht zerfressen? Der Gedanke war wirklich seltsam, daß all dies um mich herum geschehen war, ohne mir jemals bewußt zu werden.
Ich warf eine ungeöffnete Packung Zigaretten in den Papierkorb. Der zum Tode verurteilte verzichtet auf eine Augenbinde und eine Zigarette. Nein, danke – ich will mir doch keinen Lungenkrebs holen. Zehn Minuten und dann – Lydias Stimme. Warum hatte ich sie nicht schon früher angerufen? Vielleicht liegt es an meinem schottischen Großvater, aber ich gedenke nicht, die Schatzkammern der Telephongesellschaft zu füllen. Das Ganze kostet sowieso schon genug. Nicht viel, Liebling – lediglich alles, was wir in zwanzig Jahren gespart haben. Nur das.
Ich war in so vieler Hinsicht blind gewesen.
Ein gemütlicher Sonntagmorgen, die Zeitungen auf dem Boden verstreut nach dem Frühstück. Lydia daneben in einem seidenen Pyjama, das Kinn in die Hände gestützt. Was hältst du davon, diese Woche ins Bolschoi-Ballett geschleift zu werden. Nein, das dachte ich mir. (Lachend sich auf den Rücken rollend, neckend.) Wochenendfahrten aufs Land: Der Sommer mit saftigem Grün überall – Ich wünschte, der Sommer ginge nie vorbei! – und der Herbst mit seinen prächtigen Farben, die sie mir immer wieder an anderen bunten Bäumen zeigte – Aber der September stimmt immer ein wenig traurig, nicht wahr? –, und der Winter mit den eisverkrusteten Zweigen und den verschneiten Hügeln, die sich in der Ferne im Dunst verloren – Wünscht man nicht manchmal, diese weiße Decke bliebe immer liegen? – und der Frühling mit den schwellenden Knospen, Grün und Gelb, der milden Luft und der Brise in ihrem hellen Haar – Ich vergesse es immer wieder: Der Mai ist doch der schönste Monat! Abendessen bei Kerzenschein, in dem Lydias blasses Gesicht schimmert, der das Silber blitzen und die Weingläser funkeln läßt. Lydia schelmisch: Die Franzosen sind vielleicht keine so vorzüglichen Liebhaber wie du, aber ich wette, daß du keinen so köstlichen Wein herstellen könntest, wenn du es versuchtest.
Und was hatte ich erwidert? Wo waren meine Gedanken bei all dem? Was hatte ich getan, gedacht? An die Termine des Tages, eine bevorstehende Untersuchung, ein noch nicht geschriebenes Exposé.
Ich stand am Fenster, traumversunken. Ob sich ein Gefangener so fühlt, wenn er irgendwo in der Landschaft ein erleuchtetes Fenster in einem fremden Haus erblickt; seines Verlustes schmerzlich bewußt und zum erstenmal voll Bangen die Freiheit begreifend: Was es bedeuten mochte, in diesem Haus zu leben, in der Wärme und Geborgenheit dieses fernen Lichtes. Konnte wirklich nur ein Gefangener die Freiheit schätzen, nur ein zum Tod Verurteilter das Leben erfahren? Wissen wir nie zu würdigen, was wir besitzen, ehe es uns verlorengeht?
Ich hoffe nur eines – ihre weiche, schlaftrunkene, zufriedene Stimme –, daß wir unsere Gegenwart auch noch so genießen werden, wenn wir siebzig sind. Und ich sehe nicht ein, warum sich das ändern sollte.
Was auch meine Antwort gewesen war, jetzt gellte mir jedenfalls nur Jennys Wut penetrant in den Ohren: Oh, du bist ein Schuft, ein alter Mann,
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