Sonntags bei Tiffany
Mädchen hat ja keine Ahnung, wie sehr ich sie liebe«, hörte er Vivienne. »Sie hat null Ahnung.«
»Was ist mit Jane passiert?«, erkundigte sich Michael bei Elsie. »Ist mit ihr alles in Ordnung?«
»Hm, ich bin mir nicht sicher, aber sie hat sich fürchterlich mit ihrer Mutter und ihrem Freund gestritten â¦Â«
Michael wollte sie schon unterbrechen und sagen, Hugh sei nicht ihr Freund, hielt sich aber zurück.
»Ich weià nur, dass Jane rausgestürmt ist«, fuhr Elsie fort. »Und sie hat gesagt, ich soll die Anrufe für sie in die Warteschleife legen. Für alle Ewigkeit.«
Elsie hatte ihren Satz kaum beendet, als Vivienne und Hugh herauskamen. Hugh hielt ein Tuch vor sein Gesicht. Michael hoffte, dass ihn jemand geschlagen hatte. Zum Beispiel Jane.
»Sie!«, fuhr Vivienne ihn mit gehässiger Stimme an. »Sie haben damit doch was zu tun. So hat sich Jane noch nie verhalten. Sie haben sie verdorben!« Sie wedelte mit dem Zeigefinger herum wie eine strenge Lehrerin.
»Ich weià nicht, wovon Sie reden«, unterbrach sie Michael. »Jane ist erwachsen. Und sie ist nicht korrumpierbar. Im Gegensatz zu Hugh!«
Hugh kniff die Augen zusammen und stürmte, den Arm irgendwie schwingend, wie man es vielleicht für die Bühne lernte, auf Michael zu. Michael parierte den Schlag mit Leichtigkeit und versetzte, ohne nachzudenken, Hugh einen Aufwärtshaken in die Magengrube.
Hugh kippte vornüber und landete, mehr überrascht als verletzt, auf dem Boden.
Michael war noch überraschter â zwei Schläge in weniger als einer Stunde.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Michael, änderte aber seine Meinung. »Nein, tut es nicht. Sie haben es so gewollt, Hugh. Um Owen tut es mir ein bisschen leid, aber bei Ihnen bin ich froh, dass ich Ihnen eine verpasst habe.«
»Elsie, ruf die 911!«, schrie Vivienne mit hochrotem Kopf. »Ruf die Sicherheit! Ruf irgendjemanden!« Und
zu Michael gewandt, zischte sie: »Und Sie! Sie halten sich von Jane fern. Und von Hugh. Und wagen Sie es nicht, noch einmal dieses Büro zu betreten.«
»Auf zwei Ihrer Forderungen kann ich gerne eingehen«, erwiderte er.
FÃNFUNDFÃNFZIG
E rst auf der StraÃe kam Michael wieder richtig zu sich. Er hatte dieselbe Angst wie zuvor, spürte den gleichen unangenehmen Druck in der Brust, hatte die gleichen Fragen über Jane und sich. Was er nicht hatte, war Janes Handynummer. Daran dachte er, als er an einem der Janes handynummer. Daran dachte, als er an einem der wenigen in New York noch verbliebenen öffentlichen Telefone vorbeikam.
Zu Jane nach Hause zu gehen hatte keinen Sinn. Wenn sie das Büro wütend verlassen hatte, würde sie nirgendwo hingehen, wo Vivienne sie finden könnte. Wohin war sie also verschwunden?
Er ging weiter, und als er keine Lust mehr hatte, lief er schneller, und als er dazu auch keine Lust mehr hatte, rannte er los. Die Passanten wichen ihm weiträumig aus, als wäre er verrückt. Vielleicht hatten sie recht damit. New Yorker hatten ein Gespür für Verrückte.
Er setzte seine Kopfhörer auf und hörte Corinne Bailey Rae. Das half ein wenig. Corinne hatte einen beruhigenden Einfluss. Ohne bestimmtes Ziel ging er den Riverside Drive entlang, und als er die 110th Street erreichte, füllten die Türme der Cathedral of St. John the Divine den Blick zum Himmel aus.
Eigentlich war diese StraÃe als Cathedral Parkway bekannt,
und die St. John the Divine war die gröÃte Kathedrale der Welt. Aber auch nur, weil der Petersdom in Rom keine Kathedrale war. Michael kannte sich in diesen Dingen aus. Er hatte immer viel gelesen und Freude am Lernen.
Er öffnete eine der kleineren Türen, die in die groÃen Tore eingelassen waren, trat ein, kniete nieder und bekreuzigte sich.
Die Kirche war riesig, fast zweihundert Meter lang. Plötzlich kam sich Michael sehr winzig vor. Er erinnerte sich, irgendwo gehört oder gelesen zu haben, dass die Freiheitsstatue bequem unter die Mittelkuppel passen würde. Das schien zu stimmen.
Michael fühlte sich so ⦠menschlich, als er sich hier in der Kathedrale niederkniete. Und er war nicht sicher, ob ihm dies gefiel oder nicht.
SECHSUNDFÃNFZIG
M ichael stellte die Musik in seinem Kopfhörer ab und begann zu beten. Er wollte, er brauchte Antworten, aber auf diesem Weg schien er keine zu erhalten. SchlieÃlich hob er den
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