Sonntags bei Tiffany
Ich hatte das Gefühl, ein riesiges Gewicht wäre von meinen Schultern gefallen. Ich war frei von Vivienne, frei von Hugh, frei von dem Druck meiner Arbeit, frei von neun bis siebzehn oder vielmehr von neun bis einundzwanzig Uhr, frei von der Sorge, ob ich gut oder schlecht aussah. Zumindest für die nächste Stunde oder so.
Ich wollte nur noch eines in meinem Leben: Michael. Ich wusste, ich konnte mich nicht auf seine Gegenwart verlassen, weil er sie selbst nicht vollständig unter Kontrolle hatte. Ich wusste, er könnte eines Tages wieder verschwinden und würde es auch tun. Doch mit der Liebe geht man Risiken ein, und genau dazu war ich bereit. Ein Mal in meinem Leben wusste ich, was ich wollte.
Das war doch schon mal ein Anfang.
Als mich jemand ansprach, blickte ich auf, die Hand vor der Sonne schützend über die Augen gelegt.
»Entschuldigen Sie, Miss, ist diese Stufe besetzt?«
Es war Michael.
»Woher wissen Sie, dass ich eine Miss bin?«, fragte ich.
ACHTUNDFÃNFZIG
E s war wirklich Michael. Er hatte mich gefunden. Aber er sah völlig scheiÃe aus!
»Was ist mit dir passiert?«, fragte ich, nachdem ich ihn gemustert hatte.
»Was meinst du? Was soll denn mit mir los sein?«
»Du siehst aus, als hättest du tagelang nicht geschlafen. Deine Augen sind blutunterlaufen, deine Kleidung ist nass geschwitzt. Du bist â¦Â«
Er setzte sich neben mich und ergriff meine Hand. »Mir gehtâs gut, Jane. Wirklich.« Er beugte sich zu mir und küsste meinen Hals. Ob sanft oder stark, wusste ich nicht, es war mir egal. Der Kuss auf die Lippen, der folgte, lieà jeden Nerv in mir zerbersten. Er küsste mich ein zweites Mal. Und ein drittes Mal. Als ich in seine Augen blickte, prickelte die Haut an meinem ganzen Körper.
»Warum bist du nicht bei der Arbeit?«, fragte er.
Nur mit Mühe konnte ich mich auf seine Worte konzentrieren.
Mir war klar, er wusste, was geschehen war.
»Jane?«
»Warum ich nicht bei der Arbeit bin? Weil ich Hugh McGrath zu Brei geschlagen habe. Und mir dabei die Knöchel verletzt habe, glaube ich.«
Michael küsste meine Hände.
»Und weil ich meiner Mutter endlich gesagt habe, dass sie mich mal kreuzweise kann. Hat sich toll angefühlt, Michael. Weil ich heute meine Tagesarbeit gekündigt habe, die zufällig auch meine Abendarbeit war.«
Michael blickte mich liebevoll an. »Ein Hurra für Jane! Gut für dich!«
Ich lachte. »Ein Hurra für Jane? Gut für mich? Ich hoffe nicht, du glaubst, deine Arbeit wäre hiermit erledigt. Das ist sie nämlich nicht, nicht mal annähernd.«
»Du bist ein Endlosprojekt«, beruhigte er mich mit einem Lächeln. »Abwechslungsreich, mit Entwicklungspotenzial, überraschend.«
»Hervorragend ausgedrückt. Du hast geübt.«
Ich beugte mich zu ihm und küsste ihn. »Ich habe beschlossen, damit aufzuhören, mich elend zu fühlen und mich manipulieren zu lassen. Ich will das Leben genieÃen. Ich will Spaà haben. Habe ich das nicht genauso verdient wie alle anderen auch?«, fragte ich.
»Auf jeden Fall«, antwortete er. »Und du am meisten von allen.« Plötzlich machte er ein ernstes Gesicht und mied meinen Blick. Oh, oh.
»Was ist?«, fragte ich.
»Jane, erinnerst du dich, als dich dein Vater damals zu diesem langen Wochenendtrip nach Nantucket mitgenommen hat?«
»Das war der Ausgleich dafür, dass er mich an meinem fünften Geburtstag nirgendwohin mitgenommen hat. An meinem vierten auch nicht. Wahrscheinlich ebenso wenig wie an meinem dritten.«
»Ja, genau das.«
»Es war das erste Mal, dass ich wirklich glücklich war«, sagte ich lächelnd. »Wir beide haben mit meinem lächerlichen Barbie-Puppen-Eimer und der dazu passenden Schaufel Sandburgen gebaut. Wir sind in die Stadt in eine Eisdiele gegangen, wo sie Schokosplitter und Erdnüsse in der richtigen Mischung in Kaffeeeis gemischt haben. Wir sind jeden Tag schwimmen gegangen, obwohl das Wasser b-b-bitterkalt war.«
»Das war toll, was?«, fragte Michael.
»Richtig toll. Erinnerst du dich an den Cliffside Beach Club? Und Jetties Beach?«
»Lass uns dorthin zurückfahren, Jane.«
Ich lächelte. »Liebend gerne. Wann?«
»Jetzt. Heute. Fahren wir. Was meinst du?«
Ich blickte in Michaels grüne Augen und spürte, dass etwas nicht stimmte, wollte ihn aber nicht
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