Sophie Scholl
wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen«. Außenpolitische Berichte müssten so verfasst sein, dass »die innere Stimme des Volkes selbst langsam nach der Gewalt« schreie.
Zwei Tage zuvor hatte Heinrich Himmler, Chef der deutschen Polizei und Reichsführer SS, vor maßgeblichen SS-Funktionären eine ebenfalls geheime, programmatische Rede gehalten. In den nächsten zehn Jahren werde es »unerhörte Auseinandersetzungen« geben. Es werde nicht nur ein »Kampf der Nationen« sein, sondern »der weltanschauliche Kampf des gesamten Juden-, Freimaurer-, Marxisten- und Kirchentums der Welt«. Dabei sind für Himmler die Juden »der Urstoff alles Negativen«. Wenn Deutschland und Italien sich behaupten, werden die Juden vernichtet, »das ist ein einfacher Schluss«. Das Ziel »des Führers« sei ein »großgermanisches Imperium«, das größte Reich, »das die Erde je gesehen hat«.
Es war kein Zufall, dass Hitler und Himmler diese Reden gerade in diesen Tagen hielten. Die geplanten kriegerischen Eroberungszüge und die Vernichtung der Juden weltweit bedingten einander; für die nationalsozialistischen Führer war das eine mit dem anderen aufs Engste verknüpft. Ein unvorhersehbares Ereignis gab ihnen Gelegenheit, allen vor Augen zu führen, dass die aggressive Außenpolitik und das gewalttätige Vorgehen im Innern zwei Seiten einer Medaille waren.
Einen Tag vor Himmlers Rede, am Morgen des 7. November 1938, schoss der siebzehnjährige polnische Jude Herschel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris auf den Diplomaten Ernst vom Rath. Der Junge hatte bis Ende Oktober mit seinen Eltern in Hannover gelebt. Dann wurde er mit den Eltern ausgewiesen und nach Polen abgeschoben, wie alle rund 18 000 polnischen Juden in Deutschland. Am 9. November starb Ernst vom Rath. Den Nationalsozialisten kam dieser Tod wie gerufen, um den bisher schon praktizierten Antisemitismus um eine neue gewalttätige Dimension zu verstärken.
1937 hatte Adolph Eichmann Planspiele gemacht, die Auswanderung der deutschen Juden und ihre Vertreibung aus der deutschen Wirtschaft durch Pogrome zu beschleunigen. Aber erst einmal setzte 1938 – nach 1933 und 1935 – die dritte Welle eines staatlich gelenkten, aggressiven Antisemitismus ein. Immer neue Verordnungen grenzten die Minderheit der deutschen Juden, seit den »Nürnberger Gesetzen« ohnehin Bürger zweiter Klasse, gesellschaftlich aus und beschränkten ihre finanziellen Existenzmöglichkeiten weiter.
Im Juni 1938 erhielten die deutschen Juden einen besonderen Personalausweis; im Juli verloren jüdische Ärzte, Rechtsanwälte und weitere Berufsgruppen ihre Approbation; im August musste jede und jeder die Zwangsvornamen Sara beziehungsweise Israel dem Namen hinzufügen; im Oktober wurde ein rotes J in die Reisepässe gestempelt, und alle Juden wurden von der Krankenkassen-Versorgung ausgeschlossen. Die Liste ist nicht vollständig. Außer den Maßnahmen, die auf Demütigung und Zerstörung des Lebenswillens zielten, bereicherte sich der Staat materiell: Am 26. April 1938 wurde eine Verordnung erlassen, nach der jedes jüdische Vermögen über 5000 Reichsmark bis ins einzelne aufgelistet und den Finanzämtern gemeldet werden musste. Deutschland war durch die nationalsozialistische Politik tief verschuldet, die Wehrmacht verlangte weiter viele Milliarden Reichsmark, um aufzurüsten und erfolgreich Krieg führen zu können. Ein großer Teil des im April 1938 aufgeführten jüdischen Vermögens wurde ab 1939 zwangsweise in Rüstungs- und Kriegsanleihen umgewandelt.
Das »Ulmer Tagblatt« jubelte am 1. Oktober 1938, Ulm werde bald »judenfrei« sein, da es in Kürze keine nennenswerten jüdischen Betriebe mehr gebe. »Arisierung« hieß das Stichwort. Jüdische Bürger wurden gezwungen, ihren Betrieb, ihre Praxis, ihre Immobilie, ihren Besitz an Möbeln, Kunstwerken und vielen Dingen des täglichen Lebens zu einem Preis weit unter Wert an einen »arischen«, nichtjüdischen Deutschen zu verkaufen. Doch die Emigration und der Raub jüdischen Vermögens ging den braunen Machthabern nicht schnell genug. Der Schuss des Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten in Paris wurde von den führenden Nationalsozialisten blitzschnell genutzt, um in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 mit brutalen, gewalttätigen Aktionen gegen die Juden vorzugehen, wie es sie seit dem Mittelalter in Deutschland nicht mehr gegeben
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