Sophie Scholl
Hochtouren. Angebliche Gräueltaten der Tschechen an den Sudetendeutschen, Unterdrückung des deutschen Volkstums, Hilferufe der Unterdrückten nach Befreiung – die Zeitungen überboten sich mit Horrormeldungen. Anfang September 1938 drohte Hitler öffentlich mit Einmarsch, wenn die »Sudetenfrage« nicht in seinem Sinn gelöst würde. England hatte einen Beistandsvertrag mit der ČSR, falls das Land angegriffen würde. Doch die Engländer wollten nicht für die Tschechoslowakei in den Krieg ziehen. Am 15. September flog der fast siebzigjährige britische Premierminister Neville Chamberlain nach München und fuhr unverzüglich zu einer Unterredung mit dem deutschen Reichskanzler in dessen Residenz auf den Obersalzberg. Am 22. trafen sich beide Politiker in Bad Godesberg zu weiteren Verhandlungen. Hitler pokerte, schraubte seine Forderungen immer höher. Die Krise spitzte sich weiter zu. Europa rechnete mit Krieg.
Am 26. hielt Hitler eine Rede im Berliner Sportpalast. Er drohte der ČSR, erklärte im gleichen Atemzug, dies sei die letzte territoriale Forderung, die er in Europa stelle. Von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels angeführt, schrie die Menge wiederholt: »Führer befiehl, wir folgen.« Doch am 27. konnte der Diktator am Fenster seines Arbeitszimmers erleben, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht in den Krieg geführt werden wollte. Auf seinen Befehl fuhr die 2. motorisierte Division aus Stettin durch Berlin, vorbei an der Reichskanzlei. Die Menschen standen regungslos am Straßenrand, apathisch, schweigend. Kein Jubel, keine Blumen für die Soldaten. Hitlers Kommentar: »Mit diesem Volk kann ich noch keinen Krieg führen.« Am 28. September stimmte er einer Konferenz am 29. in München zu. Morgens gegen drei Uhr wurde das Münchener Abkommen unterzeichnet; Engländer, Franzosen und Italiener erfüllten alle Forderungen des Deutschen Reiches. Die ČSR, von der Konferenz ausgeschlossen, fühlt sich verraten, zu Recht. Aber sie hatte keine Alternativen. Ab 1. Oktober 1938 besetzen deutsche Truppen die Gebiete der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei.
Auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg, inzwischen Offizier im Generalstab, gehörte mit seiner Division zu den Besatzern. Das politische Vabanque-Spiel der Septembertage verurteilte er, aber nur, weil er die deutsche Armee für noch nicht kriegsfähig hielt. Mit der Annexion an sich war Stauffenberg einverstanden.
Robert Scholl konnte sich in diesen Wochen mehr denn je bestätigt sehen; nicht zuletzt gegenüber seinen Kindern. Hatte er doch seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 innerhalb der Familie und gegenüber Freunden und Bekannten mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten: Adolf Hitler ist ein Unglück für Deutschland, denn seine Politik wird in den Krieg führen. Am 6. Oktober antwortet er Hans Scholl, der frustriert über die Ungewissheit während der langen Krisenwochen war und noch ein halbes Jahr als Rekrut vor sich hat: »Ich verstehe, dass das untätige Warten kein Vergnügen ist. … Immerhin ist die ganze Kriegsgeschichte für diesmal vorüber und Du musst Dich freuen, dass Du im Frühjahr nun aller Voraussicht nach studieren darfst. Dass die Kriegsgefahr für lange Zeit gebannt ist, glaube ich keineswegs. Da darfst Du nur die Reden der letzten Tage hören: Die klingen durchaus nicht friedlich. Das Motto ist: rüsten, nochmal rüsten und noch viel mehr rüsten!« Das waren Worte eines Vaters, der sich wünschte, dass sein Sohn studierte, statt für das Vaterland in einen sinnlosen, ungerechten Krieg zu ziehen, aber darüber seinen kühlen politischen Kopf nicht verlor.
Neben der Aufrüstung mit Waffen war die »geistige Aufrüstung« der Bevölkerung für den Krieg mindestens so wichtig. Hitler wollte weg vom Image eine Friedenskanzlers, mit dem er bisher sein »Endziel« verschleiert hatte. In einer Geheimrede am 10. November 1938 eröffnete er Vertretern der deutschen Presse, die Umstände hätten ihn gezwungen, »jahrzehntelang fast nur vom Frieden zu reden«. Zwar waren es nicht Jahrzehnte, wie Hitler suggerierte, aber immerhin hatten sechs Jahre gereicht, »dass das heutige Regime an sich identisch sei mit dem Entschluss und Willen, den Frieden unter allen Umständen zu wahren«. Eine solche Deutung sei »eine falsche Beurteilung der Zielsetzung dieses Systems«. Hitler forderte die Journalisten auf, »das deutsche Volk psychologisch umzustellen und ihm langsam klarzumachen, dass es Dinge gibt, die,
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