Sophie Scholl
hatte.
Am 11. November meldete das »Ulmer Tagblatt« unter dem Titel »Gerechter Volkszorn«, nach dem Tod des deutschen Diplomaten in Paris sei es in zahlreichen Orten zu »spontanen Protestkundgebungen gegen die Juden« gekommen. Auch in Ulm habe sich »der Volkszorn in erster Linie gegen die Synagoge« gerichtet, »in deren Innern … gegen 4.00 morgens heller Feuerschein sichtbar wurde«. Überall hätten die Menschen »ihrer tiefen Befriedigung über die rasche und gründliche Vergeltung an dem frechen jüdischen Pack Ausdruck gegeben«.
Als die Ulmer diesen Artikel lasen, wussten sie, dass er nur die halbe Wahrheit mitteilte. Sofort hatte sich herumgesprochen, was in der Morgenfrühe des 10. November auf dem Weinhof, einem Platz mitten in Ulms Altstadt, wirklich geschehen war. Als Sophie Scholl an diesem Morgen die Schule betrat und in ihre Klasse kam, vergaß sie die Distanz, die sie mittlerweile zu ihren Mitschülerinnen empfand. Eine der Mitschülerinnen erinnerte sich Jahrzehnte später, wie Sophie Scholl voller Empörung erzählte, dass man den Rabbiner am Bart gerissen und durch den Brunnen gezogen habe. Ein Gerichtsverfahren hat im Dezember 1946 die Wahrheit über das Ulmer Pogrom zusammengetragen.
Am nördlichen Rand des Weinhofs stand die Ulmer Synagoge, westlich davon das Rabbinatsgebäude. Das Rabbinat diente rund fünfunddreißig Schülerinnen und Schülern seit Ostern 1936 zwangsweise als jüdische Volksschule, weil es jüdischen Kindern seitdem verboten war, auf die allgemeine Volksschule zu gehen. Auf der Mitte des Platzes befand sich der Christophorus-Brunnen mit einem großen Brunnentrog, der um diese Jahreszeit ohne Wasser war. Die Akten von 1946 erzählen, was dort am 9. November 1938 geschah:
»Auf dem Weinhof versammelte sich nun im Laufe der Zeit eine Menschenmenge von mehreren hundert Köpfen. Die Synagoge wurde erbrochen und an mehreren Stellen gleichzeitig in Brand gesetzt, so dass sie schließlich völlig ausbrannte.« Anschließend wurden die männlichen Juden Ulms aus ihren Wohnungen geholt. »Bei der Ankunft auf dem Weinhof wurden dann die Juden sofort von der tobenden Menge in Empfang genommen und gezwungen, einzeln oder zu zweien in den Brunnentrog hineinzusteigen. Dort wurden sie im Kreis herumgetrieben und von der … Menge in übelster Weise geschlagen. Wenn die Misshandelten dem Zusammenbrechen nahe waren, ließ man sie aus dem Brunnen wieder heraussteigen, worauf sie von bereitstehenden Polizeibeamten in Schutzhaft abgeführt wurden.« Zur gleichen Zeit wurden bei Ulms jüdischen Geschäften die Schaufenster eingeschlagen, die Waren teilweise demoliert. Neunundzwanzig von den in Schutzhaft genommenen Ulmer Juden wurden ins KZ Dachau gebracht, zwei von ihnen starben dort an den Folgen der Verletzungen. Andere waren so sehr misshandelt worden, dass sie sofort ins Krankenhaus eingeliefert wurden, keiner so schwer wie Julius Cohn, seit 1927 Rabbiner in Ulm.
Ulm war kein Einzelfall. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 organisierte die NSDAP reichsweit in Deutschland an Orten mit jüdischer Bevölkerung Pogrome, ausgeführt von SA- und SS-Männern in Zivil, um spontane Aktionen der Bevölkerung vorzutäuschen. Insgesamt 30 000 jüdische Männer wurden aus ihren Wohnungen geholt, durch die Straßen getrieben, geschlagen und gedemütigt; erst auf Polizeistationen, dann in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Fast 100 Männer starben an den Misshandlungen. Etwa 100 Synagogen und mehrere 100 Tempel wurden in Brand gesteckt, die religiösen Gegenstände mit Füßen getreten. Rund 8000 Geschäfte und ungezählte Wohnungen wurden verwüstet und ausgeraubt. In den Städten waren die Bürgersteige mit den Glassplittern der eingeschlagenen Fenster jüdischer Geschäfte übersät; daher die zynische Bezeichnung »Reichskristallnacht«.
Überall beteiligten sich neben den bestellten Fanatikern unbescholtene Bürger und freundliche Nachbarn an den Gewaltexzessen gegen Menschen und an der blindwütigen Zerstörung von Eigentum. Sie blieben jedoch eine Minderheit. Insgesamt gilt, was die Judenabteilung des Sicherheits-Hauptamtes in Berlin zum Ärger der nationalsozialistischen Anstifter dieser barbarischen Nacht feststellte: »Die Zivilbevölkerung hat sich nur in ganz geringem Maße an den Aktionen beteiligt.« In Prag urteilten die Berichte der Exil-SPD aufgrund geheimer Unterlagen aus dem Reich, »dass die Ausschreitungen von der großen
Weitere Kostenlose Bücher