Sophie Scholl
Mehrheit des deutschen Volkes scharf verurteilt wurden«.
Quer durch Deutschland stimmen die Beobachtungen glaubwürdiger Zeugen überein, die von Beklommenheit und erregten Diskussionen berichten, von Menschen, die beim Anblick der brennenden Synagogen »Schande« murmeln. »Es schien den meisten nicht recht«, schreibt Walter Tausk, ein Breslauer Jude, über die nichtjüdischen Deutschen, die den Ausschreitungen zusahen. Sowohl der Vandalismus als auch die Brutalität gegenüber Menschen wurden von der Mehrheit nicht gebilligt. Aber auch das gilt: Es gab keinen sichtbaren, massiven Widerstand gegen ein Ereignis, das aller Humanität Hohn sprach, aller Kultur, auf die Deutschland stolz war. Die beiden großen christlichen Kirchen schwiegen, ließen einzelne Pfarrer, die die Gewalt öffentlich anprangerten und verhaftet wurden, im Stich. Es genügte dem Regime, nach außen von Erfolg zu sprechen, das Schweigen als Komplizenschaft zu verkaufen und weiter entschieden an der »Endlösung der Judenfrage« zu arbeiten.
Am 12. November 1938 zog Hermann Göring, Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und einer der engsten politischen Weggefährten Hitlers, auf einer Konferenz im Berliner Reichsluftfahrtsministerium eine Bilanz des Sachschadens, den der »gerechte Volkszorn« angerichtet hatte. Allein die zerschlagenen Fensterscheiben entsprachen einem Wert von zehn Millionen Reichsmark. Für die anwesenden Beamten, Minister und Versicherungsangestellten stand außer Frage, dass die Juden für die materiellen Schäden des Pogroms haften mussten. Per Gesetz wurden die Versicherungsleistungen der jüdischen Besitzer beschlagnahmt. Der Schadenersatz für das zerstörte Eigentum floss direkt in die Staatskasse. Zusätzlich wurde der jüdischen Gemeinde in Deutschland als »Sühneleistung« eine Sondersteuer von über eine Milliarde Reichsmark auferlegt. Die Opfer mussten für das, was ihnen angetan wurde, auch noch zahlen.
Zudem wurde eine »Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« beschlossen, die den deutschen Juden zum 1. Januar 1939 das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften, das Anbieten von Waren oder gewerblichen Leistungen verbot. Zwar gab es noch keinen Plan zur totalen physischen Vernichtung der Juden. Doch aus der Rückschau lässt sich sagen: Mit der Katastrophe des Pogroms vom 9. auf den 10. November 1938 war der Völkermord vorprogrammiert.
Zwei Briefe schrieb Sophie Scholl an jenem 10. November, nachdem sie aus der Schule gekommen war; einen kurzen an Fritz Hartnagel, einen ausführlichen an Lisa Remppis. In beiden kein Wort über das, was sie am Morgen in der Schule empört erzählt hatte und was sie sicherlich darüber hinaus beschäftigte. Auffallend ist das nicht, denn in der Korrespondenz Sophie Scholls, die seit dem Herbst 1936 überliefert ist, geht sie auf politische Ereignisse nicht ein, auch nicht auf politische Inhalte im Zusammenhang mit ihrer Arbeit bei den Jungmädeln. Steht dahinter eine bewusste Entscheidung? Es gibt nirgendwo auch nur eine Andeutung, diese Frage mit Ja beantworten zu können. Zumindest für den 10. November liegt eine andere Antwort im Bereich des Möglichen.
In beiden Briefen bewegt sich Sophie Scholl ausschließlich innerhalb ihres eigenen Lebens-Horizontes, ihrer Probleme, ihrer Sehnsüchte. Fritz Hartnagel soll ihr helfen, die Unklarheiten in ihrer Beziehung zu beseitigen. Der Brief an Lisa Remppis ist der Versuch, im Gespräch mit ihrer vertrauten Freundin mehr Klarheit über sich selber zu bekommen und einen Ausweg aus den inneren Widersprüchen zu finden, indem sie diese formuliert. Es sind zwei sehr konzentrierte Briefe, in denen es um Entscheidungen geht, die Sophies Zukunft betreffen. Da ist kein Raum für anderes – weder für Belanglosigkeiten noch für einen Meinungsaustausch über politische Ereignisse. Allerdings kommt sie gleich zu Anfang gegenüber ihrer Freundin auf die kleine, die alltägliche Politik zu sprechen, die ihr Leben berührt. Aber diese Spur macht die Sache noch verwirrender.
Es geht um den wöchentlichen Heimabend beim BDM – im Jargon der Zeit »Dienst« genannt –, den Sophie Scholl immer noch besucht, beziehungsweise um die Jungmädel, denen auch die jüngere Lisa Remppis inzwischen beigetreten ist: »Das ist recht, dass Du eifrig in Dienst gehst, ich werd es auch tun. Es ist zur Zeit wieder eine höchst unangenehme Sache im B. D. M. mit Annlies und mir. Was endgültiges weiß ich noch
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