Sophie Scholl
gestöbert und empört erklärt, die müsse man bei der Partei melden. Am 19. August schreibt sie an ihre Schwester Liesl: »Du staunst, dass ich in Ulm statt in Worpswede bin …« Vielleicht würde sie mit den Eltern, die wie 1938 eine Schweiz-Reise planen, nach Zürich fahren, sie freute sich schon auf die Museen mit ihren Bildern. Doch die Scholls fahren nicht. Robert Scholl wird die politische Sensation richtig gedeutet haben, die unter dem Datum des 23. August 1939 in die Geschichtsbücher eingegangen ist.
An diesem Morgen flog der deutsche Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop nach Moskau, sozusagen in die Höhle des politischen Erzfeindes. Hitler war – gegen alle bisherigen Brandreden – zu einem Zweckbündnis mit Stalin bereit, um beim geplanten Krieg gegen Polen Ruhe an der östlichen Front zu haben. Noch in der gleichen Nacht unterzeichneten die Außenminister Deutschlands und der Sowjetunion einen Nichtangriffspakt auf zehn Jahre. Was sie öffentlich machten: Falls Deutschland Krieg führte, würde Russland die Gegner Deutschlands nicht unterstützen und umgekehrt. Was geheim blieb: In einem Zusatzprotokoll wurden das Baltikum und Polen in russische und deutsche Interessengebiete aufgeteilt – als ob diese Länder in naher Zukunft nicht mehr existieren würden. Was ungesagt blieb, aber nach Bekanntgabe des Übereinkommens Diplomaten, Politikern und interessierten Zeitgenossen in den Ohren dröhnte: Mit diesem Vertrag im Rücken hatte Hitler freie Hand für den nächsten Schritt seiner Gewaltpolitik: Polen zu überfallen. Hinter den Kulissen lief die deutsche Militärmaschinerie auf Hochtouren.
In diesen Tagen wurde Sophie Scholl von einer ehemaligen Ärztin, die Robert Scholls Mandantin in Steuersachen war, zu einem Besuch eingeladen. »Ich war noch einige Tage in Ehingen bei einer alten Dame«, schreibt Sophie Scholl am 26. August an Fritz Hartnagel, »sie ist jetzt schnell in die Schweiz.« Da brauchte man nichts mehr zwischen den Zeilen zu lesen, und es ist nachvollziehbar, dass Sophie Scholl sich große Sorgen um Lisa Remppis machte: »Sie ist mit Hans in Ostpreußen. Wie sie nun wieder herkommt, ist mir noch nicht klar. Und wenn es ihre Eltern erfahren, dass sie mit ihm war, gibt’s einen Mordsskandal, den ich mir gar nicht ausdenken mag. Ich habe doch in diesem Fall die Verantwortung für sie, weil sie auf jeden Fall auf das gehört hätte, was ich ihr geraten hätte. Na ja!« Wenn sie da nicht ihren Einfluss auf die alte Freundin überschätzt, denn Lisa Remppis hatte sich mit ihrer heimlichen Fahrt nach Masuren einiges getraut. Dorthin war der Medizinstudent Hans Scholl– während der Semesterferien – zum »freiwilligen Ernteeinsatz« abkommandiert worden.
Die große Mehrheit der Deutschen klammerte sich an den Frieden. Sophie Scholl machte sich keine Illusionen. Darum sorgte sie sich so um Lisa; darum schrieb sie Fritz Hartnagel, dem Berufsoffizier, am 26. August: »Für Dich geht jetzt so recht das Geschäft los. Aber ich habe euer Geschäft nicht gern. Und ich hoffe, dass ihr recht bald damit fertig seid.«
Genau eine Woche später, am 1. September 1939, meldete das »Ulmer Tagblatt« in riesigen Lettern: »Danzig ist heimgekehrt! Gewalt gegen Polens Gewalt.« Das Oberkommando der Wehrmacht gab bekannt: »Auf Befehl des Führers und obersten Befehlshabers hat die Wehrmacht den aktiven Schutz des Reiches übernommen … Truppen des deutschen Heeres heute früh über alle deutsch-polnischen Grenzen zum Gegenangriff angetreten.« Im Reichstag erklärte Hitler, polnische Soldaten hätten die Grenze überschritten und auf deutschem Territorium geschossen: »Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!« Nach der Drohung folgte das Pathos. Er werde wieder nichts anderes sein als der erste Soldat des Deutschen Reiches, und der Soldatenrock sei ihm »der heiligste und teuerste«: »Ich werde ihn nur ausziehen, nach dem Sieg – oder – ich werde dieses Ende nicht mehr erleben.« Tatsächlich hatten um drei Uhr früh am Sonntag rund 1,5 Millionen Soldaten der Heeresgruppen Nord und Süd, seit Wochen in Bereitschaftsstellungen gebracht, von Ostpreußen, Pommern und Böhmen aus die polnische Grenze durchbrochen. Hitlers Kredit bei den beiden westlichen Großmächten jedoch war endgültig aufgebraucht. Sie sahen nicht mehr tatenlos zu, wie ein freies Land überfallen wurde.
Am 3. September 1939 erklärten Großbritannien und Frankreich,
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