Sophie Scholl
6. Oktober 1939 nur noch Formsache.
An diesem Tag blickt Sophie Scholl, unbeeinflusst vom propagandistischen Tagesjubel, wiederum in die Zukunft, in die politische und in die persönliche von Fritz Hartnagel, dessen Handwerk der Krieg ist: »Hast Du keine Aussichten, bald mal Urlaub zu erhalten? Es kann ja sein, dass es nun erst losgeht. Es ist beinahe anzunehmen. Einmal muss es ja zu einer Entscheidung führen. … Vielleicht musst du später noch einmal umsatteln in Deinem Beruf.« England und Frankreich hatten zwar Deutschland den Krieg erklärt, nachdem es Polen überfallen hatte, aber noch waren kriegerische Taten an Deutschlands westlicher Grenze ausgeblieben. Verbunden mit dem erfolgreichen »Blitzkrieg« im Osten, führte das bei der deutschen Bevölkerung zu einem Stimmungsumschwung. Stolz mischte sich mit der festen Erwartung, dass Hitler nun alles tun würde, um mit den Westmächten zu einem friedlichen Ausgleich der Interessen zu kommen. Sophie Scholl teilte diese Hoffnung nicht. Nach ihrer politischen Analyse würden die Westmächte dem Krieg nicht ausweichen – und auf diese »Entscheidung« setzte sie ihre ganze gegenteilige Hoffnung.
So wertfrei das Stichwort »Entscheidung« in ihrem Brief klingt, Hans Scholl hat es in einem Tagebuch-Eintrag am 20. September 1939 klar gedeutet: »Anfangs waren wir froh, dass endlich der Krieg entfesselt worden ist: Er muss die Erlösung von diesem Joche bringen. … Unsere ganze Hoffnung hängt an diesem fürchterlichen Kriege!« Dieses Joch: Das war für Hans Scholl und seine Geschwister 1939 die Herrschaft der Nationalsozialisten, wie es die Eltern Scholl schon 1933 empfunden und vorausgesagt hatten, dass sie in einem Krieg enden würde. Jetzt gehörten alle Mitglieder der Familie Scholl zu einer winzigen Minderheit in Deutschland, die darauf setzte, dass der Krieg die braunen Machthaber um ihre Macht bringen würde. Selbst wenn der Preis ein »Massenmorden« war, so Hans Scholl, das noch lange Zeit dauern würde.
Um diese fürchterliche Hoffnung, zu der es keine friedliche Alternative gab, wird es in den Gesprächen zwischen Sophie und Hans Scholl in den ersten zwei Septemberwochen gegangen sein. Die Schulferien waren wegen des Krieges verlängert, und Hans Scholl verbrachte zu Hause seine Semesterferien, da er noch nicht zu den Soldaten eingezogen wurde. Die beiden waren viele Stunden zusammen, beim Baden an der Iller, beim Zeichnen der alten Häuser am Münsterplatz.
Wie allein Sophie Scholl – und die Familie – mit ihrer Überzeugung war, als die Siegesmeldungen aus Polen kamen, demonstrierten ihr Rundfunk und Zeitungen, Glockengeläut und Fürbitten und die Proklamationen der christlichen Kirchen. Aus dem »Gemeinsamen Wort der deutschen Bischöfe« vom 17. September 1939: »In dieser entscheidungsvollen Stunde ermuntern und ermahnen wir unsere katholischen Soldaten, in Gehorsam gegen den Führer, opferwillig unter Hingabe ihrer ganzen Persönlichkeit ihre Pflicht zu tun. Das gläubige Volk rufen wir auf zu heißem Gebet, dass Gottes Vorsehung den ausgebrochenen Krieg zu einem für das Vaterland und Volk segensreichen Erfolg und Frieden führen möge.« In ähnlichen Worten forderten die evangelischen Kirchen – die »Bekennende Kirche« eingeschlossen – vaterländische Pflichterfüllung, rechtfertigten den Krieg und riefen auf zur »Fürbitte für Führer und Reich«. Mit einem großen Dankgottesdienst im Berliner Dom feierten die Evangelischen am 8. Oktober den Sieg über Polen. Pfarrer Otto Sauter, soeben zum evangelischen Dekan von Ulm gewählt, eröffnete am 11. Oktober 1939 die Sitzung des Gesamtkirchengemeinderates mit einem Dankgebet »für den raschen und erfolgreichen Ablauf der Ereignisse in Polen«.
Der »erfolgreiche Ablauf« war eine Abfolge von Kriegsverbrechen mit dem Ziel, die polnische Nation auszulöschen. Bei über 700 Einzelaktionen wurden in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch über 16 000 polnische Männer und Frauen und Kinder erschossen; rund 7000 polnische Juden wurden ermordet, für die Überlebenden waren Gettos geplant. Von den Deutschen wurden 3000 polnische Soldaten ermordet, von den Sowjets rund 4000 polnische Offiziere in Katyn erschossen und verscharrt. Bis zum Jahresende 1939 hatten SS und Wehrmacht rund 60 000 polnische Ärzte, Lehrer, Priester, Professoren ermordet. Zentralpolen wurde zum »Generalgouvernement Polen« unter deutscher Verwaltung und wie eine rechtlose Kolonie behandelt; es sollte als
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