Sophie Scholl
Reservoir für polnische Arbeitssklaven im Reich dienen, denen jede Bildung vorenthalten wurde. In Ulm trafen im November 1939 polnische Kriegsgefangene ein, die in der Landwirtschaft arbeiten mussten; im Frühjahr 1940 folgten polnische Zwangsarbeiter, Männer und Frauen, für die Industrie. In Kolonnen zogen sie mit ihrer armseligen Habe über den Charlottenplatz, vorbei an Ulmer Bürgern, die den Zug betrachteten. Sie wohnten in Barackenlagern und mussten deutlich sichtbar ein »P« auf ihrer Kleidung tragen.
Das Leid der Polen schrie zum Himmel; die Vernichtung ihres Volkes und ihrer Kultur war ein barbarischer Akt. Aber in Berlin notierte der US-Korrespondent William Shirer in sein Tagebuch: »Ich muss den Deutschen erst noch finden – selbst unter denen, die das Regime nicht mögen –, der irgend etwas schlecht findet an der Zerstörung Polens durch Deutschland.« Warum sollten die Bischöfe und Dekane, die Gott für den Sieg dankten, einsichtiger sein, als einer, der den Feldzug an verantwortlicher Stelle mitgemacht hatte, einen eigenen Kopf besaß, auf seine humanistische Bildung stolz war und in den braunen Herren nicht Seinesgleichen sah?
Vom ersten Tag an war Claus Schenk Graf von Stauffenberg mit seiner Division am Polen-Feldzug beteiligt. Mitte September, in einer Unterkunft südlich von Warschau schreibt er seiner Frau, der Krieg scheine entschieden. Das Land sei trostlos, nichts als Sand und Staub: »Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich sicher nur unter der Knute wohlfühlt. Die tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun. In Deutschland sind sie sicher gut zu gebrauchen, arbeitsam, willig und genügsam.« Bis Ende des Jahres 1939 arbeiteten 500 000 polnische Kriegsgefangene in der deutschen Landwirtschaft. Insgesamt wurden 1,5 Millionen Polen und Polinnen nach Deutschland verschleppt und mussten als Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie die deutschen Arbeitskräfte ersetzen, die für die Fortsetzung des Krieges gebraucht wurden. Mitte Oktober war Stauffenberg wieder zurück in der Heimat, fast 300 Mann seiner Division waren in Polen gefallen. Das dämpfte seine Begeisterung über den Feldzug nicht. Stauffenberg war »vom Sieg ebenso berauscht wie die anderen jungen Offiziere«, schreibt sein Biograf Peter Hoffmann.
Und wie reagierte Fritz Hartnagel, der weit vom Schuss im Schwarzwald das Geschehen in Polen verfolgte? Dem Sophie Scholl, die Krieg »entsetzlich« fand, am fünften Kriegstag einen argumentativen Rückweg abschnitt – »Sag nicht, es ist für’s Vaterland«. Fritz Hartnagel drückte sich nicht in seiner Antwort vom 13. September: »Du bringst mich in einen großen Konflikt, wenn Du mich nach dem Sinn des Blutvergießens fragst.« Vor zwei Jahren sei er sich darüber noch im Klaren gewesen. Jetzt aber käme er sich vor »wie ein ganz kleiner Junge, der am Anfang seiner Entwicklung steht. Daran bist zum großen Teil Du schuld. Und ich bin froh darum«. Sophies entschiedene Haltung war für ihn keine Überraschung; seine Antwort lässt auf viele Gespräche zwischen den beiden zu diesem Thema schließen, die ihn nachdenklich gemacht haben. Doch für ihn gibt es – zumindest im Augenblick – keinen Ausweg aus seinem Dilemma: »Aber ich kann Dir trotzdem nicht zustimmen, denn ich habe nicht den Mut aus solch einer Ansicht die Konsequenzen zu ziehen.« Der rigorosen Ehrlichkeit Sophie Scholls steht Fritz Hartnagels Offenheit nicht nach.
Sophie Scholl insistiert nicht weiter. Waren bei ihr selbst nicht Jahre vergangen, bevor sie erkannte, auf dem falschen Weg zu sein? Bevor sie umkehrte? Und welche Alternative gäbe es für den Berufsoffizier Fritz Hartnagel? Mitten im Krieg aus der Armee ausscheiden, die gerade hunderttausende von Männern zu den Waffen ruft? Selbstmord wäre das. Sophie Scholl verliert über allem Abscheu vor dem Krieg nicht ihren Verstand und auch nicht ihre Gefühle gegenüber diesem Menschen, der ihr so viel bedeutet. Wie nebenbei deutet sie auf einen Ausweg aus dem Dilemma – wenn die Entscheidung, die sie erwartet, gefallen ist: »Vielleicht musst Du später noch einmal umsatteln in Deinem Beruf.« Sonst kein Wort mehr darüber, jetzt ist anderes wichtig: »Vielleicht kriege ich bald einen Brief von Dir? Sonst muss ich immer denken, du seiest durch einen außerordentlichen Grund verhindert. Also? Ich denke viel an Dich.« Auch ohne weitere Worte läßt Fritz
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