Sophie Scholl
Trotz.
Leichtsinnig war auch, worüber sie am 15. Mai ihren Bruder Hans informierte. Die Schilderung der Pfingsttage am Beginn des Briefes war harmlos: »Wir drei Schwestern wanderten zwei Tage lang auf der Geislinger Alb. Da brauch ich Dir nicht zu sagen, wie schön es war.« Am Briefende jedoch stand: »Vater verfolgt den Krieg jetzt durch ein neues Radio (Kurzwellen!).« Wäre dieser Brief der Zensur in die Finger gekommen, hätte das schlimme Folgen für Robert Scholl gehabt. Denn selbst ohne den Hinweis »Kurzwellen« war klar, dass er »feindliche« Sender hörte, was seit Kriegsausbruch verboten war. Wer informiert sein wollte, was wirklich in Deutschland und der Welt geschah, brauchte jetzt ein gutes Radio. Als Sophie Scholl am 9. April 1940 an Fritz Hartnagel schrieb, dass sie zu Hause »mit Unruhe auf eine Veränderung der Lage, Deiner Lage und der Lage aller Soldaten warten«, waren deutsche Soldaten am frühen Morgen in Dänemark einmarschiert und deutsche Kriegsschiffe und Flugzeuge auf dem Weg, Norwegen zu überfallen. Die Norweger wehrten sich erbittert, doch schließlich kamen beide Länder bis zum Kriegsende unter deutsche Besatzung.
Zu Sophie Scholls neunzehntem Geburtstag am 9. Mai kam ein Brief von Schwester Liesl: »My dear Sister Soffer! For your birthday the best wishes.« Und vor der Tür in Ulm stand überraschend Fritz Hartnagel mit einem Strauß Narzissen. Es war ein kurzes, hastiges Wiedersehen, am Abend schon saß er im Zug zurück zu seiner Einheit in Gelsenkirchen. Am nächsten Morgen, dem 10. Mai 1940, begann mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande, Belgien und Luxemburg nach monatelangem »Sitzkrieg« die Offensive im Westen. Und die deutschen Soldaten marschierten ohne Pause weiter in Richtung Frankreich. Dass am 14. Mai Rotterdam von deutschen Bomben aus der Luft zerstört wurde und dabei 900 Menschen ihr Leben verloren, wer sprach noch davon, als der französische Staat innerhalb von sechs Wochen unter der deutschen Militärmaschine zusammenbrach. Am 14. Juni 1940 wurde Paris erobert, deutsche Soldaten paradierten im Stechschritt die Champs-Élysées herunter. Am 21. Juni kapitulierte Frankreich und unterzeichnete den Waffenstillstand. Das Land nördlich der Loire wurde deutsche Besatzungszone.
Der erste Brief von Fritz Hartnagel nach dem Ulmer Wiedersehen kam am 16. Mai aus den Niederlanden. Zwei weitere Briefe folgten aus Belgien, der vierte wurde am 27. Mai in Nordfrankreich geschrieben. Hans Scholl war mit seiner Einheit am 15. Mai an die Westfront verlegt worden. Am 22. Mai erfuhr Fritz Hartnagel von Sophie Scholl: »Hans schrieb schon 2 Mal, ganz fröhlich. Er ist Meldefahrer, sie werden jetzt in Frankreich sein. … Anscheinend kommt er glänzend mit der Bevölkerung aus (dies ist wichtig für Hans) und macht den Dolmetscher für die ganze Einheit.« Nun war der Krieg auch am Münsterplatz 33 in Ulm angekommen.
Zwischen April und Dezember 1940 schreiben sich Sophie Scholl und Fritz Hartnagel fast siebzig Briefe, und sie reden nicht vom Wetter. Es ist wieder Sophie Scholl, die Themen und Thesen setzt. Entwirrt man das Ineinander von Emotionen und Analysen, dann ziehen sich einige wenige Gedankenstränge durch alle ihre Briefe. Hartnäckig und eindrucksvoll bleibt Sophie Scholl bei ihren Forderungen und bei ihrer kritischen Sicht auf die Politik, auf den Partner und sich selbst. Der Krieg ist mit den Kämpfen in Frankreich und dem Einrücken geliebter Menschen fassbarer geworden als beim Überfall auf das ferne Polen und jetzt erst wirklich ins Zentrum gerückt. Die Politik füllt nun alles Denken aus, setzt sie ständig unter Druck, so dass sie ohne Freude und mit schlechtem Gewissen anderen Dingen nachgeht. Es sei nicht leicht, alle Gedanken an den Krieg zu verbannen, bekennt sie am 29. Mai. »Könnte einem nicht manchmal der Mut vergehen? Oft wünsche ich mir nichts als auf einer Robinson-Crusoe-Insel zu leben.«
Am 17. Juni – Paris wurde drei Tage zuvor von deutschen Truppen erobert – ist sie so von den politischen und militärischen Ereignissen ausgefüllt, dass ihr vor dem Schreiben wieder »unsäglich graust«. Doch sofort korrigiert sie sich: »Das ist aber nur eine Müdigkeit, Faulheit und Leere, die Gott sei Dank überwunden werden muss. Auch mir ist manchmal danach zu Mute, die Waffen zu strecken. Aber, allen Gewalten zum Trotz! Es geht ja im Leben immer auf und ab. Man muss nur warten können.« So lange Sophie Scholl zurückdenken
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