Sophie Scholl
Erlebte aus Überzeugung auf grundlegende politische Spielregeln an: »Ebenso unrichtig finde ich es, wenn ein Deutscher oder Franzose oder was er sein mag, sein Volk stur verteidigt, nur weil es sein Volk ist.« Sie scheut nicht davor zurück, die Logik ihrer Gedanken auf sich persönlich anzuwenden: »In der Schule wurde uns gesagt, die Einstellung eines Deutschen sei eine bewusst subjektive. – Solange sie dabei nicht auch objektiv ist, kann ich dies nicht anerkennen.« Mit dem gleichen Maßstab misst sie nun die vorgegebene politische Lage.
Ende Juni 1940 sind die Kämpfe an der westlichen Front vorüber, Deutschland beherrscht den größten Teil Europas. Nur England weigert sich unter Führung des Premierministers Winston Churchill standhaft, mit dem nationalsozialistischen Regime, das offen mit einer Invasion und massiven Luftangriffen droht, zu paktieren oder gar klein beizugeben. Sophie Scholl wird diesen stolzen demokratischen Mut begrüßt haben, während sie mit den Franzosen hart ins Gericht geht. Denen sei es nur um ihre »gut bürgerliche Ruhe gegangen«: »Es hätte mir mehr imponiert, sie hätten Paris verteidigt bis zum letzten Schuss, ohne Rücksicht auf die vielen Kunstschätze, die es birgt, selbst wenn es, wie sicher war, keinen Nutzen gehabt hätte, wenigstens keinen unmittelbaren.« Auf der intellektuellen Ebene ist es das Gleiche: Ob Sophie Scholl sich selber motiviert, nicht die Waffen zu strecken, oder ob sie sich von den Parisern wünscht, bis zum Letzten gegen die deutschen Eroberer zu kämpfen – entscheidend ist, sich dem totalen Zugriff der Nationalsozialisten nicht zu beugen, sich nicht fatalistisch als Opfer aufzugeben.
Dass es bei diesem Widerstand um den höchsten Einsatz gehen kann, um Kostbareres als Kunstschätze, auch diese Konsequenz ihrer Einstellung legt sie gegenüber Fritz Hartnagel offen. Die Pariser haben sich kampflos ergeben, weil es für sie von unmittelbarem Nutzen war. Man hört förmlich, wie Sophie Scholl beim Schreiben zornig die Stimme hebt: »Aber Nutzen ist heute alles, Sinn gibt es nicht mehr. Ehre gibt es wohl auch nicht mehr. Die Hauptsache, dass man mit dem Leben davonkommt.« Wenn fast alle so denken, stehen Recht und Gerechtigkeit auf verlorenem Posten. Radikal denkt sie in die andere Richtung: Wenn eine Politik böse ist, muss man die Niederlage des eigenen Volkes wünschen, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Zu dieser schmerzhaften Einsicht konnten sich viele aktive Widerständler erst Jahre später durchringen.
Nur sechs Tage vor ihrem Paris-Brief hat Sophie Scholl diesen Gedanken schon einmal formuliert. Sie gibt die weit verbreitete Meinung wieder, die Menschen seien in eine zwiespältige Welt hineingeboren, deshalb müssten sie ihr gehorchen und könnten nicht geradlinig sein. Sie nennt das eine »ganz und gar unchristliche Anschauung« und setzt ihre Überzeugung dagegen: »Wie könnte man da von einem Schicksal erwarten, dass es einer gerechten Sache den Sieg gebe, da sich kaum einer findet, der sich ungeteilt einer gerechten Sache opfert.« Als positives Beispiel fällt ihr Mose ein, der während einer Schlacht der Israeliten Tag und Nacht ohne Unterlass im Gebet seine Arme hob, um von Gott den Sieg zu erbitten. Sobald er die Arme sinken ließ, kamen die Israeliten auf dem Schlachtfeld in Bedrängnis. Sophie Scholl fährt fort: »Ob es wohl auch heute noch Menschen gibt, die nicht müde werden, ihr ganzes Denken und Wollen auf eines ungeteilt zu richten?« Der Kampf für die gerechte Sache kann Opfer fordern. Sophie Scholl verbindet mit diesem Begriff allerdings nicht willenlose Hingabe, sondern höchste Konzentration, schärfstes Denken und unbedingte Entschlossenheit, die zur Tat führen – was den ganzen, ungeteilten Menschen fordert.
Denken hat für Sophie Scholl Vorrang, und sie weiß, dass sie mit diesem Anspruch gegen das traditionelle Klischee von Weiblichkeit verstößt. Schon die Siebzehnjährige hatte Fritz Hartnagel vehement widersprochen, als er sie lobte, instinktiv wie ein Mädchen gehandelt zu haben. Zwei Jahre später schreibt sie ihm im Zusammenhang mit ihrer Kritik am Verhalten der Pariser Bevölkerung gegenüber den deutschen Angreifern: »Du findest es sicher unweiblich, wie ich Dir schreibe. Es wirkt lächerlich an einem Mädchen, wenn es sich um Politik bekümmert. Sie soll ihre weiblichen Gefühle bestimmen lassen über ihr Denken. Vor allem das Mitleid.« Doch eher macht Sophie Scholl sich lächerlich, als
Weitere Kostenlose Bücher