Sophie Scholl
von ihrer Überzeugung abzugehen: »Ich aber finde, dass zuerst das Denken kommt, und dass die Gefühle oft irreleiten, weil man über dem Kleinen, das einen vielleicht unmittelbar betrifft, vielleicht am eigenen Leib, das Große kaum mehr sieht.« Kein besseres Beispiel als Paris: Die Kapitulation brachte der Bevölkerung unmittelbar die Rettung von Leib und Leben und vieler Kunstschätze. Auf lange Sicht hätte Widerstand ein aufrüttelndes Zeichen gegen den Nationalsozialismus werden können, weit über Paris und Frankreich hinaus.
Denk-Modelle sind das eine; Gefühle, die einem auf den Leib rücken und sich gegen alle Theorie wortlos Ausdruck verschaffen, das andere. Am 14. Juni, als die Münsterglocken in die Wohnung der Scholls läuten, weil Paris gefallen ist und Sophie Scholl schulfrei hat, schreibt Inge Scholl an ihren Bruder Hans, der als angehender Mediziner in einem Lazarett in Frankreich eingesetzt ist, wie sehr die Entwicklung den Vater schmerze, und fährt fort: »Auch Sofie leidet, so viel ich fühlen kann, auf ihre Art. Man möchte Massen von Fröhlichkeit und Sommerschwalben haben, um diesem Schmerz zu begegnen. Aber es gelingt mir meistens nicht, am wenigsten zur Zeit bei Sofie. … Die Straßen glänzen schwarz vor Regen, der große, unendliche Himmel hängt voller Wolken. Aber man ahnt hinter diesen Wolken das Licht. So weiß und klar und unauslöschlich, wie ein klarster Sommermorgen. Ich habe von neuem einen Glauben an unser Schicksal, auch wenn wir oft davor stehen, wie vor einem verschlossenen Haus. Einmal werden wir den Schlüssel finden.«
Um ihre tröstlichen Worte zu verstärken, schließt sie mit einem Gedicht von Hans Carossa: »Ja, du bist Welle vom frühesten Licht, … Glaub an die Heimat! Betrübe Dich nicht! // Glaub an die Heimat! Sie ist überall. … Wenn die Seele dann herrlich erschrickt / vor Abgründen, in die kein Auge blickt, / Stürze hinab! Geheiligt Dein Fall, – / Heimat umleuchtet Dich bald überall.« Man erschrickt, wenn man das im Rückblick liest, mit dem Wissen vom Ende Hans und Sophie Scholls. Inge Scholl wird über das Gedicht auch mit Sophie gesprochen haben, die Carossa ebenfalls schätzte. Welchen Trost wollte Inge Scholl mit diesem Gedicht geben? Wahrscheinlich steckt in den Versen ein geschwisterlicher Code, der für Außenstehende ein Geheimnis bleiben muss; vermutlich ziehen sich vom Dichter unsichtbare Fäden zu Gesprächen im Familienkreis. Eine tröstende Deutung darf dennoch gewagt werden: Fest darauf zu vertrauen, von einem guten Geschick getragen – vielleicht sogar auserwählt – zu sein, wie tief die Abgründe auch sind.
Am 21. Juli schreibt Robert Scholl an seinen Sohn Hans: »Der Münsterplatz wird bereits für die Begrüßungsfeier hergerichtet. Es ist ein eigenartiges Gefühl: Sieges- und Heimkehrfeiern – und doch kein Friede und kein Kriegsende. Ich habe das Gefühl, dass die längere Zeit des Krieges noch vor uns steht, die kürzere erst hinter uns liegt. Viel Not und Sorge steht uns noch bevor. Aber auch Hoffnung! Nun müssen wir weiter Geduld haben.« Geduld haben, durchhalten – gegen alle verführerischen Parolen: das ist auch der Kern von Sophie Scholls politisch-moralischer Botschaft an Fritz Hartnagel zwischen Frühjahr und Herbst 1940. Noch einmal aus ihrem Brief vom 29. Mai: »Aber im Grund kommt es ja nur darauf an, ob wir bestehen, ob wir uns halten können in der Masse, die nach nichts anderem als nach Nutzen trachtet …« Nicht die Waffen strecken, nicht den Mut verlieren.
Sophie Scholls Briefe spiegeln ihren Willen, denkerisch und sprachlich Klarheit zu bekommen, eine Diagnose zu stellen und daraus Konsequenzen abzuleiten. Dafür muss sie sich nicht auf Hitler-Reden oder Propaganda-Artikel beziehen. Es geht um einfache Wahrheiten, aber danach zu leben, ist schwer genug in ihrer Zeit. Wenn man die erhaltenen schriftlichen Zeugnisse aus diesen Monaten vorsichtig deutet, ergibt sich eine unterschiedliche Herangehensweise der Geschwister. Im Sommer und Herbst 1940 ist Sophie Scholl radikaler und konsequenter, was ihre Einstellung zum Nationalsozialismus betrifft, als Hans und Inge Scholl. Alle wollen der braunen Flut widerstehen. Sophie Scholl scheint in ihrer durchdachten Entschiedenheit am weitesten voraus zu sein.
Ihre nüchterne, analytische Art, die sich in praktischen Vergleichen ausdrückt – der Vater, der zum Wohle seines Kindes nicht total auf dessen Seite stehen muss –, unterscheidet sich von den
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