Sophie Scholl
Schicksals, dass er bei seinen ersten Besuchen im Herbst 1939 gebeten wurde, in verteilten Rollen mit den Scholl-Geschwistern ein Stück von Henry von Heiseler zu lesen. Ernst Reden hatte Heiseler empfohlen, ein Schriftsteller aus dem Kreis um Stefan George – für Otl Aicher einer von den Dichtern, die nicht auf Wahrheit, sondern auf Schönheit aus waren. Damals übernahm Otl Aicher brav eine Vorleser-Rolle und ist wiedergekommen. Aus der kleinbürgerlichen Enge seines Elternhauses – so jedenfalls fühlte er sich in Söflingen – zog es ihn in die die großzügige, offene Bürgerlichkeit hoch über dem Münsterplatz und zu den Menschen, die dort zu Hause waren.
Otl Aicher ist kein Durchschnitt, das passt zu den Scholls. Doch zum scharfen Profil des Siebzehnjährigen gehört, dass er dezidiert katholisch ist. Zwar beruft Otl Aicher sich auf die Bibel und auf einen Jesus, der den Armen und den kleinen Leuten predigte. Von der Amtskirche hält Aicher gar nichts; sie hat den Test der Zeit nicht bestanden. Das Christentum muss anfangen, von unten nach oben zu denken und nicht, wie bisher, von oben nach unten. Trotzdem: Otl Aichers Glaube, daraus macht er kein Hehl, ruht unerschütterlich auf den Säulen des Katholizismus – den Kirchenvätern Augustinus und Thomas von Aquin. Er bewundert und liest Theologen wie Kardinal Newman, ursprünglich Pfarrer der anglikanischen Kirche in England, der 1845 zum Katholizismus konvertierte und in höchste Kirchenämter aufstieg. Allein auf die Gnade Gottes zu setzen, wie Otl Aicher den Reformator Martin Luther versteht, macht in seinen Augen die protestantische Kirche unfähig, dem Bösen entgegenzutreten, und das habe sie für den Nationalsozialismus anfällig gemacht. Für Otl Aicher ist die katholischen Kirche die Mutterkirche; sie allein – die Una Sancta – hütet die Schätze, die selig machen.
Den protestantischen Scholl-Geschwistern sind solche Gedanken im Frühjahr 1940 fremd. Ihre Mutter hat sie im protestantischen Glauben erzogen, der für die ehemalige Diakonisse Lina Scholl feste Strukturen und Überzeugungen hat und eine lebendige Tradition der Frömmigkeit, die nicht nur die Sonntage, sondern auch ihren Alltag prägt. Auf Gott vertrauen, heißt für sie keineswegs, sich dem braunen Zeitgeist anzupassen, und zu Luthers Theologie vom gnädigen Gott gehört die Freiheit eines Christenmenschen unabdingbar dazu. Bei aller gegenseitigen Sympathie, die neuen Freunde mussten sich erst einmal abtasten, ob sie wirklich auf festem gemeinsamen Grund standen.
Das Vertrauen der Scholl-Geschwister in die schöne Literatur, die Kunst generell, konnte Otl Aicher nicht teilen. Auch musste er ganz sicher sein, dass die Abkehr derer, die wenige Jahre zuvor noch stolz die braune Uniform trugen, vom Nationalsozialismus wirklich radikal war. Umgekehrt hat Otl Aicher in der freundschaftlichen Runde anfangs durchaus eine gewisse Distanz gespürt. Im Dezember 1941 schreibt er darüber an den katholischen Publizisten Carl Muth, der Otl Aicher seit dem Frühjahr als väterlicher Freund verbunden ist. Freundschaftlich sind die Beziehungen des alten Herrn in München inzwischen auch zu Hans und Inge Scholl, und aus Ulm schickt Lina Scholl dem diabetes-kranken Muth nahrhafte Lebensmittel, die in Kriegszeiten rar geworden sind.
Aus Aichers offenherzigem Brief über seine Beziehung zu den Scholl-Geschwistern sei vorläufig nur eine Information zitiert, weil sie blitzartig seine Besuche am Ulmer Münsterplatz in den ersten Wochen und Monaten der Bekanntschaft erhellt. »Ich habe lange um diese Leute gerungen«, schreibt er an Carl Muth, »und zwar anfänglich fast gegen einen Widerwillen und Inge hat mir erst neulich zugestanden, sie vermutete früher hinter meinem Kommen immer den Versuch, sie zur Konversion zu treiben.« Konversion, das würde in diesem Fall den Übertritt der Protestantin Inge Scholl zur katholischen Kirche bedeuten.
WIDERSTEHEN – NICHT FEIGE SEIN
April bis August 1940
Im Himmel war’s arg schön, hatte Sophie Scholl nach dem zweiten Ski-Urlaub innerhalb von drei Wochen Fritz Hartnagel in ihrem Brief vom 25. März 1940 zugerufen und drei Wimpern beigelegt. Am 8. April begann im Evangelischen Fröbel-Seminar in Ulm-Söflingen der Alltag. Sophie Scholl hoffte, durch die Kindergärtnerinnen-Ausbildung dem Reichsarbeitsdienst zu entgehen und ab Frühjahr 1941 studieren zu können. Von nun an begann der Morgen mit der Radtour nach Söflingen, und die Tage waren
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