Sophie Scholl
nationalsozialistischen Deutschland zu bleiben und dort zu publizieren. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen, die freiwillig oder um der Verfolgung zu entgehen, das Exil gewählt hatten.
Nur wenige Monate nach Kriegsende schreibt Thomas Mann in seinem Exil in Kalifornien in einem Aufsatz, der erklären soll, warum er nicht nach Deutschland zurückkehren würde: »Es mag ein Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden.« Damit wurde eine erbitterte Auseinandersetzung ausgelöst, die bis heute die Geister trennt. Das ist eine eigene Geschichte. Hans Carossa, Reinhold Schneider, Ricarda Huch, Theodor Haecker, Werner Bergengruen und weitere Schriftsteller, die Thomas Manns Verdikt trifft, wurden mit ihren Büchern von den Scholls sehr bewusst gewählt. Für die Geschichte der Geschwister Scholl gilt festzuhalten, dass sie jene Schriftsteller, die nach 1945 mit dem negativen Etikett der »Inneren Emigration« belegt wurden, keineswegs mit »Blut und Schande« in Verbindung brachten, sondern als Kraftquelle schätzten.
Dabei ging ihre Liebe zur Literatur und zur Sprache – ihre Lust am Briefeschreiben hängt auch damit zusammen – über nationale Grenzen hinaus. In der Oberstufe sagte Sophie Scholl einer Mitschülerin: »Du musst die russischen Schriftsteller lesen, Tolstoi, Dostojewski, Gogol …« Dass die Geschwister auch außerhalb der Schule eifrig Französisch lernten, hatte mit ihrer Begeisterung für französische Literatur zu tun – für Romane ebenso wie Gedichte. Charles Baudelaire und Paul Verlaine zählten zu Sophie Scholls Favoriten. Auch die deutschen Klassiker waren für sie keine Museumsstücke, ob Hölderlin, Schiller oder Goethe. Man lieh sich gegenseitig die Bücher; aber jedes der Geschwister baute sich zugleich eine eigene Bibliothek auf.
Auch in Otl Aichers Zimmer in der Söflinger Glockengasse 10 stand eine eigene Bibliothek. Die Liebe zu Büchern, die Begeisterung fürs Lesen war ein starkes Band zwischen ihm und den Scholls; aber darin steckte auch eine Menge Konfliktstoff. Das theologische, philosophische und historische Wissen, das der junge Otl Aicher sich angelesen und präsent hatte, war enorm und imponierend. Dagegen verzichtete Aicher bewusst auf Romane und betrachtete literarische Meisterwerke mit größtem Misstrauen. »Inge hat mir neulich gesagt, dass sie viel Rilke liest«, schreibt er Ernst Reden im November 1940, »kannst Du erahnen, wie weh mir das tut – weil sie ihn teilnehmend liest. Man muss über Rilke stehen, um ihn lesen zu dürfen«. Er warte auf den Augenblick, um Inge Scholl das zu sagen – »könntest nicht auch Du ihr einmal zureden?« Schöngeistige Literatur ist für Otl Aicher eine gefährliche Ware. Sie darf nur von Menschen gelesen werden, die sich von ihr nicht berühren, nicht ergreifen lassen – weil sonst das Menschsein gefährdet wäre. Das ist das Gegenteil dessen, was die Scholl-Geschwister unter Literatur verstanden.
Radikal, wie Otl Aicher dachte, galt sein Negativ-Urteil nicht nur den Büchern, sondern der Kunst überhaupt. Dagegen hatte die Welt der Bücher wie die Kunst insgesamt im Leben der Scholl-Geschwister eine zentrale Bedeutung. Nicht mehr Bach auf dem Klavier spielen, keine Konzerte mehr hören, nicht mehr Menschen auf dem Papier in einer Zeichnung fassen, sich nicht mehr an Kunstpostkarten von Paula Modersohn-Becker, von Albrecht Dürer oder Franz Marc erfreuen? Keine Schubert-Lieder mehr einstudieren und mit ihnen den Abend beschließen? Undenkbar für Sophie Scholl, und alle Geschwister hätten ihr zugestimmt.
Kunst war ohne Schönheit nicht zu denken, und die hatte bei den Scholls sichtbar auch im Alltag ihren Platz. Ein eleganter moderner Stuhl, ein festlich gedeckter Tisch, der schöne Blüthner-Flügel – wie sehr das für sie zur Lebensqualität gehört, gesteht Sophie Scholl acht Wochen nach Kriegsbeginn am 29. Oktober 1939 Fritz Hartnagel: »Ich freue mich immer sehr an unsrer schönen Wohnung, und merke jetzt erst, welch ein Verlust es ist, wenn man hier sich einschränken muss. Dies klingt sehr oberflächlich, aber es spielt bei mir eine große Rolle.« Für Otl Aicher ging es nie um Schönheit, immer nur um Wahrheit – im christlich-katholischen Sinn.
Im Rückblick ist es eine amüsante Ironie des
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