Sophie Scholl
Robert Scholl zu hören.
Der achtzehnjährige Werner Scholl dagegen konnte der Unterstützung seiner Eltern sicher sein, als er 1940 aus der HJ austrat. Obwohl die HJ-Pflicht mit achtzehn Jahren endete, bekam er – wie sein Freund Otl – Schwierigkeiten am naturwissenschaftlich-mathematischen Zweig der Kepler-Schule. »Bei Werner ist es sehr unsicher, ob er das Abitur machen darf, da er nicht mehr in der H. J. ist«, informierte Sophie Fritz Hartnagel. Mit Stolz auf die eigenen und ein wenig Verachtung für Otl Aichers kleinmütige Eltern fährt sie fort: »Otl ist es schon endgültig verweigert worden. Man darf’s nicht tragisch nehmen. (Unsre Eltern sind Gott sei Dank vernünftiger als Otls Eltern.)« Aber zwei politisch unsichere Kantonisten in einer Abiturklasse, das hätte kein gutes Licht auf die Kepler-Schule geworfen. Werner Scholl darf das Abitur machen.
Ähnlich selbstbewusst wie an Willi Habermann schreibt Otl Aicher mehrere Briefe über »die Sache« an seinen Freund Bruno Wüstenberg in Rom und beruft sich auch auf die moralische Unterstützung durch die Scholls. Der zehn Jahre ältere Wüstenberg hatte sich während seiner Zeit als Kaplan in Söflingen mit dem jungen Aicher befreundet und studierte seit dem Herbst 1939 an der päpstlichen Universität. Bruno Wüstenberg, der seine sehnsüchtige Liebe zu Otl Aicher in manchem Brief in Worte gefasst hat, rät dem jungen Freund dringend, das Abitur zu machen, um anschließend studieren zu können. Wüstenbergs Brief vom 13. Februar 1941 ist ein rares Zeugnis, weil er einen Blick von außen auf Otl Aicher wirft und zugleich ein hartes Urteil über dessen Freundschaftsbeziehungen fällt: »Wenn einer seinen Eltern trotzt, seinen Lehrern, der Umwelt, seinen Freunden, die ihn lieben, dann muss dieser, um ein Recht zu dieser Handlung zu haben, ein Genie sein oder er ist ein verblendeter Trotzkopf. Ich bin gezwungen Dir zu sagen, dass Du kein Genie bist. Es geht hier nicht um die Frage, ob ich Dich verstehe, so wie Du meinst, wie Dich der sogenannte Has und seine Schwestern verstehen. Aber auch das ist noch ein Trugschluss, da man diesen Deinen Freunden … die Unbefangenheit absprechen muss, weil sie nichts sind als Deine Kreaturen, die gar nicht eigen denken, sondern so wie Du jedesmal willst.«
Sophie Scholl sah Otl Aicher in einem anderen Licht. An Lisa Remppis schreibt sie in diesen Wochen: »Unbewusst halte ich allen Menschen Otl Aicher gegenüber.« Solches Vergleichen aber sei nicht gut, und sie wolle sich in Zukunft in Acht nehmen. Er wäre noch weiter in ihrer Achtung gestiegen, hätte sie gewusst, dass seine Radikalität für etwas verantwortlich war, das wie ein Unfall aussah. Als Sophie Scholl ihrer Freundin Lisa im Dezember 1940 mitteilte, wer alles zum Skifahren mitkomme, war unter den Namen auch Otl Aicher. Ohne weitere Angaben oder Aufregung fügte sie hinzu: »Otl kann nicht Skifahren, denn er verlor 3 Finger (das heißt: sie bleiben steif. Und sind noch nicht so weit.)« Damit war die Angelegenheit für sie erledigt.
Am 16. April 1941 notiert Inge Scholl, der Erinnerungen an das Ski-Lager kamen, im Tagebuch einen Dialog mit Otl Aicher vom gleichen Tag: »Ob ich gedacht hätte, er hätte sich die Finger extra abgeschlagen – Nein – Ich habe es aber getan.« Willi Habermann, der in den Bergen dabei war, wusste es die ganze Zeit. Er hatte am 3. Dezember 1940 einen Brief von Otl Aicher bekommen: »… ich habe mir nämlich drei Finger abgeschlagen …« Er habe genau berechnet, in welchem Winkel ihm einer der Heizkörper im Geschäft seines Vaters auf die linke Hand fallen müsse, um genau die Finger zu verletzen, die er nicht zum Modellieren brauche. Aber solange Aicher daraus ein Geheimnis machte, schwieg sein Freund Habermann selbstverständlich. Der Sinn dieser Selbstverstümmelung? Der Achtzehnjährige ging davon aus, dass der Krieg noch nicht an sein Ende gekommen war und er dem Einsatz als Soldat für ein verbrecherisches Regime nicht entgehen würde. Mit drei steifen Fingern hoffte er, zumindest dem Dienst an der Front – und damit an der Waffe – zu entkommen. Denn so intensiv sich die Ulmer Gleichgesinnten auch zusammenschlossen, sie vergaßen die Welt draußen nicht.
Die politische Situation zum Jahresbeginn 1941 war voller Ungewissheit. Nervöse Spannung lag in der Luft. Die Deutschen hofften, dass der Krieg im dritten Jahr sein Ende finden würde. Hitler, mit seinem untrüglichen Gespür für Stimmungen, versuchte, mit
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