Sophie Scholl
es weiter: Singen oder Volkstanz, Basteln oder Spiele; immer kam noch die weltanschauliche Schulung obendrauf. Bevor endlich freie Zeit angesagt war, wurde die Fahne mit gleichem Ritual wie morgens eingeholt. Nachdem die jungen Frauen auf diese Weise rund zwei Monate kaserniert und gedrillt waren, folgte der Außendienst: Arbeit auf Bauernhöfen, in Haushalten und in kleinen Betrieben in der Umgebung.
Das Ziel der schönen heilen RAD-Welt beschreibt ein nationalsozialistisches Handbuch: »Die weibliche Jugend soll unbedingt den Segen spüren, den diese wahrhafte ›Volksschule‹ den jungen deutschen Menschen für ihr ganzes ferneres Leben spendet, Ziel ist die nationalsozialistische Erziehung zur richtigen Arbeitsauffassung und Volksverbundenheit im Geist einer gemeinsamen Weltanschauung … Haustochter, Abiturientin, Verkäuferin, Fabrikarbeiterin – sie werden in wahrer Volksgemeinschaft vorgebildet zur künftigen deutschen Frau und Mutter.« Die große Mehrheit der Frauen, die den RAD durchlaufen haben und nach 1945 über ihre Erfahrungen befragt wurden, hatten positive Erinnerungen. Mit den politischen Parolen konnten sie leben, weil sie die sechs Monate im Lager als Freiheit von Elternhaus oder Arbeitsplatz erfuhren. Unbeschwert genossen sie die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen, das Leben auf dem Land. So sahen es im Rückblick auch Frauen, die mit Sophie Scholl im Lager Krauchenwies waren. Sie erinnerten sich an eine fröhliche Zeit und dass ihnen Sophie Scholl fremd blieb, weil sie selten lachte, meist ernst war und Distanz wahrte.
Am 20. April 1941, »Führers Geburtstag«, über den es in Sophie Scholls RAD-Pass heißt, »Auf den Führer vereidigt«, schreibt sie an Hans Scholl: »Ich habe ein dickes Fell, an dem alles abläuft, was ablaufen soll.« »Unabhängig sein von Menschen und Dingen« nannte sie als Motto gleich im ersten Tagebuch-Eintrag und fügte selbstkritisch hinzu, sie verlange oft von Fritz Ähnliches, ohne selbst konsequent danach zu handeln.
Gleichmütig zu ertragen suchte sie auch die Menschen um sich herum, versuchte sogar, ihnen gerecht zu werden. Dass die Schlafkameradinnen spöttische Bemerkungen machten, wenn Sophie Scholl in der knappen freien Zeit am Abend in ihre Bücher schaute, statt sich an deren Zweideutigkeiten zu beteiligen, sah sie anfangs noch mit Nachsicht. Die Mädchen seien nicht »besonders ordinär«, schrieb sie Mitte April an Lisa Remppis, »nein, es sind ganz gewöhnliche tüchtige Mädel, und dies halbe Gesprächsthema ist wahrscheinlich für sie das wichtigste«. Doch schon zwei Wochen später bricht es aus ihr heraus: »Der einzige, allerbeliebteste und häufigste Gesprächsstoff sind die Männer. Manchmal kotzt mich alles an. Jetzt zum Beispiel. … Trotz allem, es ist ein recht gutes Erziehungsmittel für mich.«
Das empfahl auch der Bruder Hans in seinem »Wochenbrief« vom 5. Mai dem »lieben Schwesterlein«: »Aber es gilt natürlich aus dem wenigen das Beste herauszuholen. Eine Erziehung ist diese Anstalt, wenn auch im negativen Sinn, das heißt man erzieht sich selbst dadurch, dass man sich über die Sache stellt und sie nicht ernst nimmt, und das tust Du ja.« Die zweite eiserne Regel für Sophie Scholl im Lager lautete deshalb: sich nicht daran gewöhnen.
Keinesfalls wollte Sophie Scholl zum bösen Spiel eine gute Miene machen. Wurstigkeit und Gleichmut durften nicht in Gleichgültigkeit umschlagen. Sich daran nicht zu gewöhnen, bedeutet: die äußere Anpassung auf das Nötigste beschränken und keinen Anlass zu Reibungen geben. Dabei innerlich jedoch auf Distanz bleiben, was sich auch in Äußerlichkeiten zeigt und manifestiert. Zwei Stützen bilden vorläufig Sophie Scholls tägliches Abhärte- und Durchhalte-Programm: die kalte Dusche am Abend und die Lektüre ihrer Wahl, wenn nötig unter der Bettdecke. Der zweite Punkt konnte nur dank der unerklärlichen Großzügigkeit der Gruppenführerin gelingen, denn im Lager durfte man keine eigenen Bücher haben. Was Sophie Scholl im Gepäck mitbrachte – die Bibel, Augustinus, Thomas Mann –, entsprach ohnehin nicht dem nationalsozialistischen Kanon. Doch als Fräulein Recknagel davon erfuhr, beließ sie die Bücher im Spind. Es war der Beginn einer offensichtlichen Bevorzugung. Am 25. April meldete eine glückliche Sophie Scholl nach Hause, sie sei von der Führerin ins Büro versetzt worden. Dort zeichnete sie Osterkarten und eine Griechenlandkarte, um den siegreichen Zug der deutschen Wehrmacht
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