Sophie Scholl
– für Inge Scholl trifft es zu. Zu Otl Aichers gezielten Provokationen stellt sich der Begriff »Kraftprobe« ein, mit dem Sophie Scholl ihr Verhalten gegenüber Fritz Hartnagel beschrieb: Den Partner bewusst bis an die Schmerzgrenze herausfordern, um dessen Eigenkräfte zu mobilisieren, ihn aufzurütteln. Er soll unabhängig von Stimmungen und Gefühlen Härte zeigen – um eines höheren Zieles willen.
Und es funktioniert auch bei Inge Scholl. Anfang März hatte der knapp neunzehnjährige Otl Aicher seinem Freund Willi Habermann, Spitzname »Grogo«, geschrieben, Inge habe ihm ins Gesicht gesagt, »sie wolle sich nicht zu sehr von mir beeinflussen lassen, sie wolle nicht haben, dass sie nur aus Anhänglichkeit mir gehorche«. Erfreut kommentiert Aicher: »Du kannst Dir denken, wie mir diese klare Haltung imponiert. … Ich habe keine Sorge mehr um sie, sie hat nun den Weg, auf dem sie alles leisten wird. … Sie liest mit Ernst Reden und mir jeden Abend aus Augustinus, wie ihn Przywara ausgesucht hat, und dies Buch wird ihr bestimmt den letzten Schliff geben, wenigstens im groben. Wir werden schließlich Freunde werden, die sich hassen, weil sie sich lieben mit einer Liebe, die in Gott ihren Angelpunkt hat.«
Ernst Reden verbanden seit dem Oktober 1938 zarte Bande mit Inge Scholl. Über sie hatte er Otl Aicher kennengelernt, der ihm Ende August 1940 schrieb: »so liebe ich Dich, dass ich um eines Dinges willen an Dir hänge, das über uns beiden steht, und das eben ist die Wahrheit. Anders darf ich keinen Menschen lieben.« Auch nicht Inge Scholl – und im Sinn dieser Liebe, »die in Gott ihren Angelpunkt hat«, ist es egoistisch, nur einen Menschen zu lieben. Aicher schreibt seine Liebes-Erklärung an Ernst Reden am 16. April 1941, dem gleichen Tag, an dem er Inge Scholl mit schmerzlicher Härte provoziert. Aber immer hält Otl Aicher neben den Demütigungen auch Auszeichnungen bereit, zum Beispiel den Augustinus-Bund.
»Inge Scholl liest jeden Abend mit Ernst Reden und mir aus Augustinus«, hatte er Willi Habermann Anfang März mitgeteilt. »Mit diesem Buch verhält es sich so«, wird Inge Scholl am 11. Mai in ihr Tagebuch schreiben. »Otl hat mir einmal an einem der wesentlichsten Abende gesagt, dass er mir ein Buch bestellt habe …« Es war das Buch des Jesuiten Erich Przywara: »Augustinus. Die Gestalt als Gefüge«, erschienen 1934. Ein anspruchsvoller Gang durch die gesamte Geistesgeschichte des christlichen Europa, als roter Faden die Theologie des Kirchenvaters Augustinus. Weiter im Tagebuch Inge Scholl: »Dabei sagte mir Otl, dass er Ernst dieses Buch gesandt habe und dass sie beide vereinbart hatten, unter allen Umständen jeden Tag darin zu lesen. Ich sagte ihm, dass ich mich dieser Vereinbarung anschließen wolle.« Im Ur-Bund, den Otl Aicher mit Ernst Reden geschlossen hatte – die Augustinus-Lektüre als geistiges Band –, wurde Inge Scholl im Februar 1941 die Dritte. Damit bildeten die Drei einen Extra-Zirkel neben dem Vierer-Bund, zu dem sich nach der Bernanos-Lektüre im Gebirge Sophie, Werner und Inge Scholl und Otl Aicher zusammengetan hatten.
Einer fehlt – ist etwa Hans Scholl aus diesen Konstellationen herausgefallen, die sich auf die Suche nach einer höheren, der höchsten Wahrheit gebildet hatten? Die Antwort auf diese Frage hängt zusammen mit einem Blick auf die beiden Paare Sophie Scholl–Fritz Hartnagel und Otl Aicher–Inge Scholl. Beim genaueren Hinsehen fallen verblüffende Parallelen auf, wobei die männlichen und weiblichen Rollen spiegelverkehrt sind.
Sophie Scholl und Otl Aicher nehmen in ihren Beziehungen jeweils ähnliche, wenn nicht identische Standpunkte ein. Beide sind starke Persönlichkeiten, die Denken vor Gefühl setzen und von sich und ihren Partnern Härte fordern. Selbstbewusst, sind sie von ihrem Ziel und ihren Methoden überzeugt und deshalb kompromisslos, weil sie darin auch für den anderen das Beste sehen. Fritz Hartnagel und Inge Scholl ist Härte fremd, sie sind verletzlich, setzen auf Wärme und Gefühle. Weniger selbstbewusst, beugen sie sich der Autorität ihrer Partner, die sie nicht verlieren wollen. Sowohl Sophie wie Inge Scholl haben in diesen Wochen Anlass, sich mit ihrem Bruder Hans zu beschäftigen. Ihre jeweiligen Reaktionen zeigen ein weiteres Mal, wie verschieden die beiden Schwestern sind.
Nachdem Lisa Remppis ihr mitgeteilt hatte, dass es zwischen ihr und Hans endgültig aus sei, kommt Sophie Scholl in ihrer Antwort auf ihren
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