Sophie Scholl
Bruder zu sprechen: »Hans ist von uns am unausgerichtetsten. Das kann gefährlich werden, man muss ihn immer ein bisschen hüten – dazu hat er ja Schwestern.« Die Briefe, die Sophie mit Hans Scholl während seiner Zeit als Soldat in Frankreich gewechselt haben, sprechen von herzlicher Zuneigung. Doch die jüngere Schwester lässt sich den kritischen Blick – auch und gerade auf geliebte Menschen – nicht von Gefühlen trüben. Sie scheut sich nicht, ein klares Urteil abzugeben, zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten ist sie erstaunlich nachsichtig, wenn sie die Schwestern für das Wohlergehen des Bruders mitverantwortlich macht. Allerdings nimmt sie es auf die leichte Schulter. Der dritte Blick führt Sophie Scholl zwei Sätze später unerwartet zu Otl Aicher: »Unbewusst halte ich allen Menschen Otl Aicher gegenüber …« Und damit ist indirekt, aber deutlich, der Faden der Kritik an ihrem Bruder wieder aufgenommen.
Das war Mitte März 1941. Ende des Monats kommt Hans Scholl auf ein paar Tage Urlaub nach Hause. Es ist ein Abschiedsbesuch; am 1. April soll er zu seiner Kompanie nach Polen einrücken. Inge Scholl, und nicht nur ihr, ist das Herz schwer. »Er ist doch so jung«, schreibt sie am 30. März in ihr Tagebuch. Um dann über ihr Verhältnis zu dem ein Jahr jüngeren Bruder nachzusinnen: »Es geht mir oft so seltsam mit ihm. Meine Verträumtheit … wird in seiner Gegenwart zum verwerflichen Übel.« Mal verstehe sie sich gut mit ihm, dann wieder gebe es Gespräche, die eine Kluft aufreißen und wie ein Stachel für sie sind. Kennzeichen dieser Einschätzung: sich selbst klein zu machen, ihre »Verträumtheit« als »verwerfliches Übel« zu brandmarken, kein kritisches Wort über den Bruder.
Als die Freundschaft zu Otl Aicher tiefer wurde, geriet Inge Scholl zwischen zwei Autoritäten, an die sie beide durch intensive Gefühle gebunden ist. Sie hofft auf gutes Einverständnis zwischen beiden – zwischen Hans Scholl und Otl Aicher. Und versucht, ein wenig nachzuhelfen, indem sie den zweiundzwanzigjährigen Hans, Medizinstudent in München, mit allerhöchsten Ansprüchen auf geistigem Gebiet, mit Otls Meinungen über Gott und die Welt und dessen Wissen zum Thema Religion bekannt macht.
Die beiden Männer sind unterschiedliche Typen. Der elegante Hans Scholl füllt sofort jeden Raum, den er betritt. Er genießt es, im Mittelpunkt angeregter Diskussionen zu stehen, die er dank rhetorischer Beschlagenheit und breit gefächerter Kenntnisse spielend beherrscht. Er sprudelt von spontanen Ideen. Otl Aicher dagegen, so Inge Scholls liebevoll gemeinte Beschreibung Jahre später, war ein grober Klotz, als er zu den Scholls kam. Ein Einzelgänger, der lieber durch die Wälder streifte, als in Gesellschaften zu glänzen; der schweigend beobachtete und um keinen Preis sich dem schönen Schein ergeben wollte. Inge Scholl lag daran, diese Ungleichheiten einzuebnen. Otl Aicher, der für sie immer wichtiger wurde, sollte unter ihren Geschwistern vorbehaltlos das gleiche Ansehen genießen wie ihr Freund Ernst Reden.
Als Hans Scholl auf Urlaub in Ulm ist, gibt Inge Scholl ihm den »Sonnengesang« des Franziskus zu lesen, den Otl Aicher ihr wenige Wochen zuvor mitgebracht hatte. Am 1. April kann sie zwei gute Nachrichten im Tagebuch notieren: Hans muss nicht nach Polen, er kann vorerst weiterstudieren. Und dann: »Er sagte: Der Sonnengesang ist herrlich. Einfach wunderbar. Genugtuung um Otls willen.« Großes Aufatmen. Doch diese Methode kann sich auch ins Gegenteil wenden.
Am 5. Mai ist Hans Scholl wieder in Ulm. Die Familie feiert den sechzigsten Geburtstag von Lina Scholl. Inge Scholl hatte ihren Bruder in den Wochen zuvor auf die Satiren des katholischen Publizisten Theodor Haecker aufmerksam gemacht, den Otl Aicher sehr schätzte. Bei Kaffee und Kuchen kommt Hans Scholl auf Haeckers Buch zu sprechen – und drückt sein Missfallen aus. »Es ist eben ganz und gar vom katholischen Standpunkt aus geschrieben«, zitiert ihn Inge Scholl noch am gleichen Abend im Tagebuch, »und das ist falsch. Thomas Mann wollte doch zum Beispiel nichts anderes als gute Romane schreiben.« Inge Scholl war »vollkommen niedergeschlagen«. Dabei hatte Hans Scholl richtig geurteilt: Theodor Haecker, vom Protestantismus zum Katholizismus konvertiert, nahm einen dezidiert katholischen Standpunkt ein. Niemand um den runden Tisch konnte ahnen, dass schon im nächsten Jahr Theodor Haecker eine große, gar nicht zu unterschätzende
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