Sophie Scholl
schon ein anderer Dunst, und morgens liegt schon der Reif auf der Wiese. … Es gibt viel, viel schönes hier, mir reicht es lang. Und da ich ja viel wichtigere Dinge zu denken und zu tun habe, kümmert mich das Lager wenig und alles, was drin- und dranhängt.« Die Freiheit hängt nicht an äußeren Dingen oder an Menschen. Wer sich von ihnen frei machen kann, erfährt jene Sicherheit, die einem niemand nehmen kann, und fühlt sich nicht mehr verlassen.
Am 14. September ist Sophie endlich daheim in Ulm – und hat bei der Abreise aus dem Lager erfahren, dass sie vierzehn Tage fortbleiben darf, Sonderurlaub. Was für eine unbändige Freude, wieder teilzuhaben an einer anderen Welt. Inge Scholl berichtet dem Bruder Werner: »Sofie ist nun für zwei Wochen da und nimmt Mutter und auch mir mit großer Ruhe und Umsicht die übermäßig viele Arbeit aus der Hand.« Und die Mutter schreibt dem Jüngsten am 23. September: »Sofie ist noch bei uns und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn sie fort müsste. Heute wurde wieder ein Gesuch gemacht an den R. A. D. in Stuttgart, der Arzt schrieb wieder ein Gutachten über meinen Gesundheitszustand.« Neben der Arbeit im Haushalt bleibt Sophie Scholl Zeit für ein privates Leben, das sie im Lager so sehr vermisst hat. Abends geht sie mit Inge Scholl in die Französisch-Stunde, und dann ist da noch jemand, der sich danach sehnt, mit ihr zusammen zu sein. Einen Tag vor ihrer Abfahrt nach Ulm hatte Sophie Scholl Lisa Remppis mitgeteilt: »Ich glaube, Fritz ist in Ulm, ich bestellte ihn wenigstens dorthin. Er ist zur Zeit in Weimar und reist in den nächsten Tagen nach Afrika ab.«
Fritz Hartnagel konnte es selbst kaum begreifen: Am 2. September, immer noch bei Smolensk stationiert, hatte er den Funkspruch bekommen, sich umgehend bei der Heeresgruppe Mitte zur »Sonderverwendung« einzufinden. Zwei Tage später verließ er Russland in einer JU 52 – das Donnern der Front war zu hören –, landete in Ostpreußen, und weiter ging es mit dem Zug über Berlin nach Weimar. Da saß er nun mit dem Befehl, einen Nachrichtenzug aufzubauen, und in rund vierzehn Tagen sollte es weitergehen nach Libyen zum deutschen Afrika-Korps. Mit welchen Gefühlen sie sich wiedersahen, sieben Monate nach dem gemeinsamen Urlaub, als in vielen Gesprächen der Grundstein für ein neues Miteinander gelegt wurde, darüber gibt es keinerlei Zeugnisse. Aber es gab viel zu erzählen. Zum Beispiel, dass für Familie Scholl inzwischen München nahe an Ulm gerückt war.
Am 24. August, ein schöner Spätsommertag, klingelten Inge und Hans Scholl an dem »bescheidenen Haus« in München-Solln. Carl Muth, der dreiundsiebzig Jahre alte Hausherr, öffnete und führte die beiden zu einer Bank im Garten, dicht neben einem Beet voll blühender Rosen. Eine buchstäblich bewegende Freundschaft beginnt, deren Bedeutung für die weitere Biografie von Hans, Sophie und Inge Scholl gar nicht überschätzt werden kann. Es ist an der Zeit, mehr über Carl Muth zu erfahren und über seinen Freund Theodor Haecker, zu dem Inge und Hans Scholl ebenfalls engen Kontakt bekommen.
Wenn der jugendliche Otl Aicher in den dreißiger Jahren ins Söflinger Pfarrhaus ging, um sich bei Pfarrer Franz Weiß neue Lektüre auszuleihen, gehörten die vielen Bände »Hochland« dazu, eine Zeitschrift, die Carl Muth seit 1903 herausgab. Und unter den Büchern im Pfarrhaus waren auch solche von Theodor Haecker, der ebenfalls für das »Hochland« schrieb. Die Zeitschrift war in den zwanziger Jahren eine Bühne für katholische Intellektuelle geworden, die – wie Muth und Haecker – aus dem Getto römisch-katholischer Kultur- und Fortschrittsfeindlichkeit ausbrechen wollten. Sie öffneten sich der modernen Zeit – was Literatur, Philosophie, die Kunst und die Wissenschaften betraf –, während der Vatikan für solche Entwicklungen bisher nur Verurteilungen bereit hielt. Durch ihr positives Eintreten für die Moderne gewann die katholische Kultur-Zeitschrift gute Autoren, machte Auflage und kämpfte mit ihren Beiträgen für die erste deutsche Republik.
Theodor Haecker, Jahrgang 1879, fiel schon vor dem Ersten Weltkrieg durch sein Talent für Satire und Polemik auf, und die Zeitgenossen verglichen ihn mit Karl Kraus. Nach seiner Konversion zum Katholizismus 1921 übersetzte er Kierkegaard aus dem Dänischen ins Deutsche und wandte sich dem Thema Christentum und Kultur zu. Er publizierte regelmäßig im »Hochland« und veröffentlichte
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