Sophie Scholl
dieses leere Gefühl, denn er hat ja so bereitgestellt und vorbereitet für diesen Raum.« Tags zuvor hatten die beiden noch eine Wanderung gemacht, und beim Blick in die Landschaft gespürt, »wie viel herrliche Freiheit und welche Möglichkeiten uns Menschen auferlegt ist«. Otl Aicher, immer auf dem Sprung, den Gleichgesinnten neue Aufgaben zu stellen, Anregungen für das geistige Training zu liefern und die Kommunikation untereinander zu stärken, hat eine Idee für die Zeit, wo er bei den Soldaten ist und überhaupt ihr ganzer Kreis ziemlich auseinandergerissen: ein »Rundbrief« soll die gemeinsamen Lese- und Diskussionsstunden ersetzen. Inge Scholl ist ganz beseelt: »Also – Sofielein, nimm Dir manchmal Bleistift und Papier zur Hand und schreib’ nieder, was Dir so an schönen und klaren Gedanken kommt über die Dinge, die uns wichtig sind. Lass sie nicht einfach wieder fortgehen. Ich glaube, er könnte vielen in unserem Kreis von Nutzen sein, dieser Rundbrief.« Otl Aicher, der in einer Kaserne in Ludwigsburg auf die Front vorbereitet wird, hat viel Schreibpapier mitgenommen.
Einmal in Schwung, gibt die Ältere der Jüngeren weitere Aufgaben. Zum einen, was ihre Schwester Liesl betrifft: »Schreib Du ihr Sofielein, so oft es geht.« Dann wird Inge Scholl Sophie Ernst Redens Adresse geben: »Man muss voller guter Fürsorge für ihn sein.« Inge Scholl kann nicht ahnen, dass ihr Brief Sophie Scholl in einer gänzlich veränderten Stimmung antrifft. Ihre frohen Zeilen werden nicht gerade das Richtige für die schwermütige Sophie Scholl gewesen sein, noch weniger die liebevollen Aufforderungen, sich um andere zu kümmern. Auch Familie konnte anstrengend sein, einengend; wo die Zwanzigjährige sich so danach sehnte, ihr Leben frei gestalten zu können, und ihre ganze Kraft für sich selber brauchte.
Das Wochenende 4./5. Oktober 1941 fährt Inge Scholl zu Sophie nach Krauchenwies. Ob es einen Notruf gegeben hat? Zurück in Ulm, resümiert Inge Scholl im Tagebuch die Familiensituation: »Mutter lange Zeit matt und leidend. Vater erstickt fast an Arbeit. Sofie darf nicht fort vom Kriegshilfsdienst. Auch war sie so niedergedrückt, als ich sie letzten Samstag und Sonntag besuchte. Ach, was heißt niedergedrückt? Sie gestand mir, dass ihr die vergangene Woche beim geringsten Anlass die Tränen gekommen seien. ›Ich habe noch einmal an alles gedacht – und da habe ich halt weinen müssen.‹« Tags zuvor hatte Inge Scholl zwei Briefe geschrieben. Einen an Otl Aicher mit der Information, dass Sophies »Freiheitsgesuch« noch nicht entschieden sei, sie aber vorläufig einen Kindergarten in der Nähe von Donaueschingen übernehmen solle. Der andere Brief ging ins Lager Krauchenwies: »Ach Sofie, was soll ich bloß mit Dir anfangen? Du bist mir recht ein wenig Sorgenkind geworden. Aber komm’ am Sonntag, es wird sich schon manches zurechtfinden beim Beisammensein.«
In der Zwischenzeit ist Sophie Scholl von Krauchenwies in die RAD-Unterkunft bei Blumberg umgezogen, dicht an der Schweizer Grenze, am Ostrand des südlichen Schwarzwalds gelegen. Von dort soll sie mit dem Fahrrad zum Kindergarten ins Dorf Fürstenberg fahren, südöstlich von Donaueschingen, den sie allein führen wird. Aber erst einmal fährt sie am 11. Oktober, einem Samstag, wieder nach Ulm. »Sofie spielt Klavier, es ist Abend«, schreibt Inge Scholl am Sonntag in ihr Tagebuch. Die Schwester kann ein paar Tage bleiben; am Mittwoch kommt die Aufforderung, zurück nach Blumberg zu fahren. In all diesem Hin und Her wurde einer bisher nicht greifbar, der eine Stütze für Sophie Scholl hätte sein können. Ist Fritz Hartnagel mit seiner Einheit inzwischen in Afrika gelandet? Er sollte ja nur vierzehn Tage in Weimar Zwischenstation machen, und die waren seit dem 5. September längst verstrichen. Nein, er steckt in diesen Wochen in ähnlicher Ungewissheit wie Sophie Scholl. Er ist auf dem Sprung, kann nichts planen. Aber es kommt kein Befehl zum Abmarsch. Es ist, als ob man in der riesigen Kriegmaschinerie ihn samt seinem Auftrag vergessen hätte.
Am 26. Oktober taucht Fritz Hartnagel in einem Brief von Inge Scholl an Otl Aicher auf, als Erklärung dafür, dass Sophie Scholl schon wieder in Ulm ist: »Sofie ist gerade da, sie hat auf Antrag von Fritz Urlaub bekommen.« Es ist zu vermuten, dass er angegeben hat, mit seiner »Verlobten« einige Tage verbringen zu wollen. Das wurde einem Soldaten, der von der Front kam und auf dem Weg zum nächsten
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