Sophie Scholl
doch sehr sachlich und von Gefühlen frei und soll’s auch so bleiben. Es könnte sonst an Nutzen verlieren.« Haben Gefühle keinen Nutzen? Sind sie lästig, belastend? Je älter sie wird, desto distanzierter scheint Sophie Scholl über Gefühle zu denken.
Am 27. August 1941 schickte Robert Scholl ein Gesuch zur »Entlassung der Arbeitsmaid Sophie Scholl« an die RAD-Führerin in Krauchenwies sowie an die Bezirksleitung RAD Württemberg in Stuttgart. Die Bitte wurde begründet mit dem schlechten Gesundheitszustand von Lina Scholl, deren »Leben und Gesundheit« gefährdet seien, wenn sie nicht durch ihre Tochter Sophie bei der Hausarbeit entlastet würde. Neben dem achtjährigen Winfried aus Essen hatte die Familie Mitte August noch ein »Flandernkind« aus Antwerpen und ein Ferienkind aufgenommen. Lina Scholl kümmere sich um einen umfangreichen gepachteten Gemüsegarten und habe seit Jahren keinen Urlaub gehabt. Das beigefügte ärztliche Gutachten attestierte Magen- und Darmstörungen, schwere Koliken, starke Abmagerung, eine schwere Schwächung des Allgemeinzustandes. Der Arzt hatte kein Gefälligkeitsgutachten ausgestellt, die sechzigjährige Lina Scholl war ziemlich krank. »Ich kann die Arbeit nicht mehr schaffen«, schreibt sie, die ganz und gar nicht wehleidig ist, am 24. August an Werner Scholl. »Ich komme gar nicht mehr zum Lesen. Es kommt vor, dass ich manchen Tag gar nicht mehr in die Bibel schaue.«
Zur Ungewissheit über ihre eigene Zukunft kam für Sophie Scholl die Sorge um Fritz Hartnagel hinzu. Sie brauchte nur seine Briefe zu lesen, um zu wissen, dass die jubelnden Schlagzeilen der Zeitungen, die dröhnenden Siegesmeldungen im Radio der Realität an der Front im Osten nicht entsprachen. Am 1. August schreibt Fritz Hartnagel, der Vormarsch sei ins Stocken geraten. Er hofft, dass es bald weiter geht. Aber nicht, weil er im Siegesrausch ist, sondern damit »dieser Feldzug ein schnelles Ende nimmt. Dass ich es von ganzem Herzen herbeisehne, wirst Du verstehen«. Fritz Hartnagel, der Berufsoffizier, ist nicht von Propaganda-Parolen oder nationalsozialistischer Weltanschauung infiziert. Sein Denken und sein Fühlen nehmen unverfälscht wahr, was um ihn herum geschieht. Er frage sich, »wie sollen wir da nur wieder zurückkommen«. Der Weg nach Moskau sei noch weit, und der Russe kämpfe »äußerst zäh und verbissen«. Ihn dauert »das Los der Bevölkerung, die nichts zu essen hat«. Ihm graut davor, »dass wir den Winter hier verbringen sollten«. Doch er hofft, »auch dies schadlos zu überstehen«.
Woraus zieht er seine Hoffnung in einer Situation, die andere depressiv oder zynisch werden ließ? Wenn man darauf angewiesen wäre, schreibt Fritz Hartnagel an Sophie Scholl, »den Trost nur im Weltlichen zu suchen, dann könnte man den Mut verlieren. Ich beginne allmählich zu ahnen wohin mein, oder unser beider Weg führt, wenn ich ihn auch noch nicht ganz verstandesmäßig begriffen habe«. Es ist unübersehbar: Was Sophie Scholl angestoßen hat bei Fritz Hartnagel, trägt Früchte.
Am 4. September 1941 wird das Gesuch, Sophie Scholl vom Kriegshilfsdienst freizustellen, um der kranken Mutter zur Hand zu gehen, abgelehnt. »Natürlich geben wir die Sache noch nicht auf. Mutter hat schon selbst nach Stuttgart geschrieben«, meldet Inge Scholl der Schwester nach Krauchenwies. Da Sophie am Sonntag in acht Tagen in Ulm sein werde, könne dann alles besprochen werden: »Spreize nun Deine Flügelchen fest aus, wie die kleinen Tannen ihre jungen Äste. Und lass dich gut grüßen von allen, besonders von Deiner Inge.« Wie wird Sophie Scholl auf die schlechte Nachricht reagieren?
Sie macht sich keine Illusionen – und erlaubt sich Gefühle. »Jetzt bleibe ich also noch ein halbes Jahr in der Zwangsjacke«, schreibt sie umgehend an Hans Scholl, »eigentlich hätte die Zeit bis jetzt schon genügt, um meine Abscheu und meine Verachtung dafür ganz reifen zu lassen. Das ist nicht eine Phrase, sondern ein bloß zu oft empfundenes Gefühl.« Sie ist entschlossen, dass es dabei nicht bleibt: »Aber seltsam, jetzt spüre ich so recht, dass mich nichts zwingen wird, ein herrliches Stärkegefühl habe ich manchmal. Und meine Oberen so recht zu hintergehen, meine Freiheit heimlich zu genießen, bereitet mir tiefes Vergnügen.« Wie so oft in kritischen Situationen, schenkt Sophie Scholl der Blick auf die Natur die Gewissheit anderer Wirklichkeiten: »Der Herbst ist schön. Über den Wäldern in der Ferne liegt
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