Sophie Scholl
lassen …« (Kapitel 29). Und endlich führt alles Suchen zu der Erfahrung, dass Gott ein Gott der Liebe ist: »Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Liebe.« (Jeremia, Kapitel 31). Es ist der Grabspruch, den Lina Scholl für ihr jüngstes Kind, die mit neun Monaten in Forchtenberg verstorbene Thilde, ausgesucht hatte.
Auch in Sophie Scholls Notiz über den schrecklich fernen Gott deutet sich die Wende an. Den Tränen nahe, ausgelöst durch die Absage von Lisa Remppis, kommt ihr die bittere Erkenntnis, der Freundin durch Briefe nicht mehr nahe zu sein. Aber es folgt ein großer Trost: »Ich muss mit aller Liebe an sie denken.« Liebe – das ist das erlösende Stichwort, dass das unruhige Herz in ruhige Bahnen lenken wird: »Wenn ich jemand sehr liebe, das merke ich eben, dann kann ich nichts Besseres tun als ihn in mein Gebet einschließen. … was kann ich Besseres tun, als mit dieser Liebe zu Gott zu gehen? Gebe Gott, dass ich Fritz auch in seinem Namen lieben lerne.« Sophie Scholl ist entschlossen, nicht aufzugeben. Auch wenn sie im Vergleich zu dem gefestigten Glauben der Menschen, die sie liebt, sich erst am Anfang eines langen Weges fühlt. Die Angst und die Traurigkeit sind noch nicht gewichen.
Am 22. Dezember geht wieder ein Brief aus Blumberg an Lisa Remppis. Der Ausblick auf die Feiertage in Ulm macht Sophie Scholl geradezu übermütig: »Zweimal werden wir noch wach, heißa, dann ist Weihnachtstag.« In etlichen Kindergärten und Horten habe sie schon Vorweihnachten gefeiert, heute Abend gehe es in den »Adler« zum Bürgermeister: »Wie herrlich, dass ich heimkann, der Aufenthalt hier kostet Nervenkraft.« Nicht nur Nervenkraft: »Heute morgen habe ich 150 Stühle und 20 Tische abgewaschen, heute mittag geht der Putz weiter.« Aber wenigstens ihren guten Willen für einen Weihnachtsbrief wolle sie zeigen. Der Brief schließt: »Denke ein bisschen liebevoll an mich, ich bin sehr empfänglich dafür.«
Das ist der Alltag, und nicht zu knapp. Es gehören dazu die Gespräche mit Bürgermeister oder Kolleginnen, bei denen Sophie Scholl vorsichtig sein muss; nicht sagen darf, was sie denkt. Natürlich muss sie beim Gang durch Blumberg Bekannte mit »Heil Hitler!« grüßen. Von den Wochenenden mit Fritz Hartnagel weiß sie, dass im Osten seit Anfang Dezember die Gegenoffensive der Roten Armee begonnen hat. Aus jedem Lautsprecher in Blumberg dröhnte es am 11. Dezember 1941, dass Hitler den USA den Krieg erklärte habe. Nun hatten die Nationalsozialisten buchstäblich zum Weltkrieg gemacht, was sie im September 1939 mit dem Überfall auf Polen auslösten. Sophie Scholl wird es sehr beschäftigt haben: Welche Folgen hat die neue politische Lage für ihre Brüder, für Fritz Hartnagel, für Otl Aicher? Und was bedeutet es für ihre Zukunft? Noch mehr Zwangsarbeit und keine Hoffnung, je in überschaubarer Zeit studieren zu können?
Mit dem Schrei nach dem fernen Gott war am Jahresende 1941 auch immer die Frage nach dem gerechten Gott verbunden, die Sophie Scholl zu Hause am Mittagstisch gestellt hatte. Sie wurde nur noch dringlicher. Ihre Suche nach Sicherheiten beschränkt sich nicht auf einen inneren Raum privater Frömmigkeit. Jeder Schritt, den Sophie Scholl seit dem Examen als Kindergärtnerin tut, in den Lagern von Krauchenwies und Blumberg, erinnert sie an Zwang und Unfreiheit, die ihr Leben prägen. Sie muss es nicht aufschreiben, die verbrecherische Politik des Nationalsozialismus ist für sie immer prägend und präsent. Und ebenso ihr Vorsatz, gegenüber den weltlichen Mächten zumindest eine innere Freiheit zu bewahren. Glaube und Leben sind bei Sophie Scholl aufs Engste verwoben.
Einer fehlt noch beim Blick auf den Kreis der Gleichgesinnten und ihre Beziehung zu Gott: Otl Aicher. Er ist kein Suchender; ihm ist der Glaube zur ersten Natur geworden. Ein Glaube, der für ihn, bei aller Kritik an der Institution und ihren Repräsentanten, dennoch ausschließlich in den Inhalten und Riten der römisch-katholischen Kirche seinen vollen Wahrheitsgehalt entfaltet. Und wer sich im Besitz der vollen Wahrheit wähnt, will er nicht Menschen, die er liebt und schätzt, zum gleichen Ziel führen?
Am 28. Dezember 1941 bedankt sich Otl Aicher bei Carl Muth für dessen Briefe und Bücher: »Die größte Freude machte mir aber die Nachricht, dass Sie mit Inge und Sofie Briefwechsel haben und dass ihr Bruder Hans viel bei Ihnen ist, denn das sind sehr brave Leute und sie
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