Sophie Scholl
Carl Muth eine Fotografie des Turiner Grabtuchs an Otl Aicher: »Anbei das Antlitz Christi vom Turiner Grabtuch. Noch nie hat sich ein Betrachter in das große Bild in dem Hauptwerk, das ich habe, so vertieft, wie heute Sophie Scholl. Es hat mir Eindruck gemacht. Sie scheint ein sehr innerliches und ernstes Mädchen zu sein.«
In München vergisst Sophie Scholl bei der Abreise ihre geliebte Blockflöte. Traute Lafrenz schickt sie ihr am 8. Januar nach Blumberg, und weil sie »garnichts, rein garnichts« habe, das sie dazu legen könne, stellt sie ihrem Brief ein berühmtes Novalis-Gedicht in Schönschrift voran – »Ich sehe Dich in tausend Bildern / Maria, lieblich ausgedrückt; / doch keins von allen kann Dich schildern / wie meine Seele Dich erblickt. …« Eine Erinnerung an die gemeinsamen Tage im Gebirge, die Kraft geben soll für Gegenwart und Zukunft. Zugleich denkt Traute Lafrenz mitfühlend an das, was Sophie Scholl über ihre Situation in Blumberg erzählt hat, und fragt, ob sie »den Anfangskatzenjammer« hinter sich habe und die Tage schon zähle.
Wie nie zuvor in diesem zweiten Arbeitsdienst zählte Sophie Scholl die Tage, bis sie Ende März 1942 das Lagerleben hinter sich lassen konnte. Sie hatte die Verschlechterung schon befürchtet, weil eine neue, unangenehme RAD-Führerin – eine hundertfünfzigprozentige – die alte ablöste, mit der das Leben nach Feierabend erträglich gewesen war. Die Neue verlangte auch nach der Kinderhort-Arbeit ständigen Dienst, sogar am Sonntag. Briefe mit direkten Aussagen von Sophie Scholl haben sich nicht erhalten, aber Inge Scholls Antworten an die Schwester sagen genug. 9. Januar 1942: »Denke nicht viel an Deine für Dich so bedrückenden Umstände. Es wäre schlimm, wenn Gott uns nicht darüber halten könnte. Denk während Deiner Tage viel an ihn und über Dinge nach, die Du über ihn erfährst. … Gott wird Dir den starken, gesunden und frohen Gegendruck geben gegen das, was auf Dich drückt. Ich glaube fest daran. Denke viel an ihn und an Dich selbst, oder besser gesagt: über Dich selbst zu ihm hin.«
Am 17. Januar schickt Inge Scholl ein Päckchen, damit Sophie einen guten Start in die neue Woche hat. Sie erzählt, dass Werner, in einer Ulmer Kaserne stationiert, nach München gefahren ist und mit Hans Scholl bei Muth einen Leseabend erlebte. Es las der deutsche Übersetzer aus Werken des englischen Kardinals Henry Newman, dessen Predigten für alle Scholl-Geschwister zur ständigen Lektüre gehörten. Ein Ereignis, aus dem Inge Scholl Ermutigung schöpft, die sie gleich weitergibt: »Ach Sofie, wenn ich denke, welche Menschen uns umgeben und welche Aufgabe wir gerade in dieser Zeit zu erfüllen haben, dann meine ich fast, wir schöpfen aus dem Vollen.« Der Gedanke führt sie zurück zu einem Erlebnis vom Abend zuvor. Sie war in einen kleinen Kreis geladen – »fast lauter Mönche« –, in dem ein Schriftsteller aus seinem Zyklus über Engel vorlas: »Da war von einem Engel die Rede, der an den Abgründen der Menschen steht, nicht, um zurückzuhalten und zu schützen, sondern unbarmherzig gegen die, die nicht wagen, über den Abgrund zu springen; sie tragen aber diejenigen über den Abgrund, die den Sprung gewagt hatten.« Inge Scholl sieht darin für sich und die Geschwister einen Hinweis: »Ach Sofie, ein feiner Gedanke hinter dem Gedicht. Ich wollte, ich könnte ihn euch abschreiben.«
Drei Tage später gelingt Inge Scholl eher Seltenes: ein kurzer Brief, ohne theologische Begründungen, ohne Rückgriff auf gelehrte Autoritäten. Einfach nur der Versuch, mit Gefühlen schwesterlichen Trost zu spenden: »Ich freue mich, wenn du bald wieder kommst. Aber ich freue mich auch so auf Dich und an Dir. Ich hab dich ja lieb.« Schon am 17. Januar, einem Samstag, hatte Inge Scholl gefragt: »Wann kommst du wieder auf Besuch?« Es war das zweite Wochenende in diesem Monat, das Sophie Scholl für ihr Zusammensein mit Fritz Hartnagel reserviert hatte. Diesmal wieder in Freiburg, zuvor hatten sie sich auch in Blumberg getroffen. Vor die Wahl gestellt, ist für Sophie Scholl offenbar das Zusammensein mit Fritz Hartnagel unkomplizierter, entspannender als ein Besuch zu Hause. Obwohl sich das Problem des alten Jahres, die Differenzen zwischen ihr und Fritz Hartnagel über das Ausleben ihrer Liebe, auch im neuen Jahr einstellt.
Fritz Hartnagel schreibt Sophie Scholl im ersten Januarbrief 1942, er sei bei ihr »froh und unbeschwert wie noch nie bei irgendeinem
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