Sophie Scholl
Niemand, der zurückblickt auf das Leben von Sophie Scholl, kann diesem Dilemma entkommen. Keine Deutungen mehr zu wagen, wäre die falsche Alternative. Wir müssen nur im Hinterkopf behalten, wie dünn in manchen Zeiten das Geflecht der Lebenswirklichkeit ist, das eine Biografie Sophie Scholls – selbst mit den vielen bisher unbekannten Dokumenten – knüpfen kann.
Manchmal gibt es einen dunklen Fleck, der sich kaum aufhellen, kaum rational deuten lässt. Der Name »Waldemar Gabriel« taucht in den bisherigen Versuchen, das Leben der Sophie Scholl zu beschreiben, nicht auf. Doch was auf den ersten Blick wie ein Geheimnis anmutet, darüber hat sie Fritz Hartnagel und ihrer Freundin Lisa Remppis geschrieben. Ihre Familie war informiert, und im Oktober 1942 wird Waldemar Gabriel für ein paar Tage Gast der Familie Scholl in Ulm sein. Das Wissen über diesen jungen Mann erschöpft sich in wenigen Daten: siebenundzwanzig Jahre alt, Soldat an der russischen Front, seine Mutter lebt im saarländischen Elversberg. Mit dem ihr bis dahin unbekannten Waldemar Gabriel, das ergibt sich aus seinen Briefen, beginnt Sophie Scholl im Februar einen Briefwechsel. »Erstaunt und erfreut« sei er über ihren Brief vom 12. Februar, schreibt Waldemar Gabriel am 20. des Monats. Er bittet sie um Informationen: Wie alt sie sei, »schildern Sie ihren Werdegang«. Eine gewisse Ursel Osthof wird erwähnt, die die Korrespondenz offenbar vermittelt hat. Über Ursel Osthof wird Gabriel im nächsten Brief schreiben: »Von unsern Briefen braucht jene nichts zu wissen und Sie werden ja auch nicht eifersüchtig sein, wenn ich ihr noch weiterhin schreibe.« Von Sophie Scholl findet sich nicht die geringste Erklärung, warum sie sich zu all ihrer Arbeit, zu der Korrespondenz mit Eltern, Geschwistern, Freunden und Freundinnen, noch diese Aufgabe auflädt. Ist es die verzweifelte Sehnsucht, angesichts der Kriegsmaschinerie nicht tatenlos zu bleiben? Wenigstens auf diese Weise – unabhängig von Fritz Hartnagel – am Leben eines Menschen teilzunehmen, der an der Front steht? Ihm mit ihren Briefen ein winziges Stückchen Abwechslung, geistige Unterhaltung in seine Militär-Öde zu bringen? Das Rätsel lässt sich mit den vorhandenen Dokumenten nicht lösen.
Aber mit ein paar Briefen immerhin wird Waldemar Gabriel uns das Jahr 1942 über begleiten. Und auch von Sophie Scholl haben sich aus dem Sommer und Herbst Briefe erhalten. Der Unbekannte ist ein eloquenter, gebildeter Zeitgenosse, etwas zynisch, der sich dennoch einfühlend in Sophie Scholls Leben einklinkt. Die wenigen Briefe sind kostbar, weil sie – aus wohlwollend-kritischer Distanz – die einzigen Dokumente eines unbefangenen Beobachters von Sophie Scholl in dieser Zeit sind. Erstaunlich ist, wie offen sich Sophie Scholl in diese Korrespondenz eingebracht hat. Vielleicht konnte sie sich mit dem Unbekannten freier austauschen als mit denen, die ihr durch Emotionen und gemeinsame Erfahrungen seit langem verbunden waren. Es ist eine muntere, anregende Diskussion, die zwischen den beiden entsteht, da sie gemeinsame Interessen entdecken.
Auf seine Anfrage vom 20. Februar hat Waldemar Gabriel umgehend eine Antwort bekommen. Am 1. März bedankt er sich für Sophie Scholls Brief und das Foto, das sie beigelegt hat. Sie ist gleich zur Sache gekommen und hat ihm von den Büchern geschrieben, die ihr wichtig sind. Sein Kommentar: »Ich kann aus Ihren Seiten erkennen, dass Sie katholisch sind. Ich bin auch ein Erzkatholik.« Theodor Haecker ist ihm bekannt, an Kierkegaard habe er sich geschult: »Wenn Sie nun wissen, wie Kierkegaard mit der Kirche und dem heutigen Christentum verfährt, dann kennen Sie auch meine Einstellung.« Er kennt auch seinen Augustinus. Dann kommt er auf Persönliches zu sprechen. »Biologie ist ein Fach, das mir gefällt« – Sophie Scholl wird ihm von ihrem Studiums-Wunsch geschrieben haben. »Auch Ihre Geschwister sind mir schon lieb, die Sie mir ja noch vorstellen wollen.« Und es folgt die Bitte, sie solle »nicht mehr so reden, als stünde ich hoch über Ihnen«. Er habe sich auf diesen Briefwechsel eingelassen, weil »Sie eben mit dem ersten Brief mich gefangen haben. Wie, wieso, warum und wie lange, weiß ich nicht. Doch wollen wir ehrlich den Kampf ausfechten. Mir ist ein wenig Bange um uns beide dabei«. Es treffen sich zwei, die sich mit offenem Visier begegnen und Vergnügen an geistiger Auseinandersetzung haben.
Kein Brief ist ein klarer, ungetrübter Spiegel.
Weitere Kostenlose Bücher