Sophie Scholl
Und jeder, der ihn liest, bringt unweigerlich sich selber und seine eigene Geschichte mit ins Bild. Um so mehr gilt dieser Vorbehalt für einen unbekannten Brief von Sophie Scholl, in dem sie der ältesten Schwester ihr Herz über sich selbst, aber auch über das Böse in der Welt ausschüttet. Das jedenfalls ist der Eindruck von Inge Scholl. Am 23. Februar 1942 antwortet sie auf diesen Brief, er habe sie »berührt als das zärtlichste Sehnsuchtslied eines gefangenen Vögeleins an den fernen Wald«. Dann hebt sie etwas den pädagogischen Zeigefinger: »Man darf mit seinem eigenen Leid oder Schmerz … keinen Kult machen, deshalb schreibe ich Dir darüber nicht viel jetzt.« Aber sie ist froh, dass die Schwester sich bei ihr ausspricht – endlich – und hat auch Trost für sie.
Sie entwirft das Bild von Seelen, die wie Vasen seien, nur dass sie auch unten keinen Boden hätten. »Wenn nun das Leid der Welt, der Menschen, in solchem Maße ansteigt wie in solchen Zeiten«, dann steige das Leid der Welt in diesen Vasen ebenso in die Höhe – »und fließt über in Gott«. Das wiederum führt Inge Scholl zu dem, was der »gütige alte Herr« ihr einmal geschrieben habe, als sie ihm ihre Traurigkeit klagte. Carl Muth habe die Traurigkeit gerechtfertigt als »Sühne für all das Unrechte und Böse, das in Blindheit oder bewusst geschehe«. Es folgt ein persönliches Bekenntnis: »Ich habe das zunächst nicht begreifen können. Aber mit der Zeit, dem Sprung in Gottes Arm, mit dem Ja zu dem, gegen das ich so ratlos war, habe ich es begriffen.«
Sophie Scholl zog das Denken dem Schwärmen vor; sie wollte nicht sentimental sein. Wie wird sie es aufgenommen haben, wenn Inge Scholl sie auffordert: »Du glaubst doch auch, Sofie, … dass für Gott die Liebe, die aus dem Leid entsteigt und das Leid, das aus der Liebe entspringt, wie ein unsäglich schöner Opferduft sind?« Inge Scholl wird noch persönlicher. Sie wisse ganz bestimmt, »dass auch Du den goldenen Grund der Hoffnung und der kaum erklärbaren Freude haben wirst, vielleicht schon hast, den ich nun habe«. Es folgt eine Abhandlung über Engel, inspiriert von ihrem Besuch bei Carl Muth in Solln, der nur eine Woche zurücklag. Ein wenig sträubt sich der angestammte protestantische Glaube noch gegen die Engellehre, aber auch da ist Inge Scholl auf dem Rückzug. Carl Muth hatte ihr erklärt, jeder Mensch habe seinen Schutzengel, ob er daran glaube oder nicht. Inge Scholls Angebot für Sophie: »Wenn es uns nun auch nicht notwendig erscheint, einen Engel zu haben, wo wir doch Christus haben, vielleicht steckt doch ein großer Trost und tiefer Sinn dahinter. Denk Sofie: Du hast einen Engel. Und wenn Du abends müde und verzagt in Dein Bett steigen willst und noch vor dem Einschlafen kniest und betest: es kniet jemand neben Dir.« Die Eindringlichkeit, mit der Inge Scholl Ende Februar 1942 für ihre Sicht des Glaubens bei der jüngsten Schwester wirbt, hat gute Gründe. Noch in dieser letzten Februarwoche wird Inge Scholl dem Menschen ihres tiefsten Vertrauens offenbaren, was für sie zum »goldenen Grund der Hoffnung« geworden ist.
Am 3. März 1942 bedankt sich Otl Aicher in einem Brief bei Carl Muth, »dass Sie sich so sehr um die Menschen annehmen, an denen ich schon versuchte, die wahre Quelle ihrer Freude aufzugraben«. Dann bricht es förmlich aus ihm heraus: »Und wissen Sie, was mir Inge neulich geschrieben hat: es bestünde nun nichts mehr für sie, was ihre Heimkehr zur Mutter Kirche hemmen könnte! Oh ich könnte jubeln …« Überschwänglich beteuert der knapp Zwanzigjährige, dass er »für die letzten Konsequenzen der Wahrheit« gerne sterben würde, besinnt sich dann aber darauf, dass die Mission an seinen Freunden – allen Scholls – noch nicht beendet ist. Er würde doch »gerne noch in dieser Welt bleiben, um ihnen wenigstens das zu geben, was mich selig macht …« Es ist verständlich, dass Otl Aicher von Inge Scholls Ankündigung, zur katholischen Kirche übertreten zu wollen, überwältigt ist. Er sieht darin eine Bestätigung von höchster Stelle und höchstem Wohlwollen für ihn, den gläubigen Katholiken: »Gott, der Unaussprechliche, liebt mich.« Und er teilt die frohe Botschaft am gleichen Tag auch seinem Freund Willi Habermann mit.
Es geschah gar nicht so selten, dass Otl Aicher Briefe von Inge Scholl in voller Länge seinen Freunden weitergab. Fast als wären es Trophäen, die von seinem Einfluss kündeten. Er zitiert Habermann
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