Sophie Scholl
politischen Großlage hing auch Sophie Scholls Schicksal zusammen: »Ob du loskommst – diese Frage müssen wir auch mit Dir teilen, man weiß nicht, was in der Luft hängt.« Angesichts dieser Ungewissheiten kommt Lina Scholl wieder auf das einzig Gewisse zurück: Gott führt auch auf krummen Wegen zum Ziel.
Am Morgen des 5. Februar, so steht es in Inge Scholls Tagebuch, ist ein Brief von Sophie Scholl in Ulm angekommen: »Sie schreibt sehr gedrückt und fast ein wenig hilflos. O wie weh das tut, nicht all das Hässliche mit ihr teilen zu dürfen. Wie brennend gern würde ich sie ablösen.« Lina Scholl versucht in ihrem Brief am Abend der Tochter Trost und Rat zu spenden: »Überlass jetzt ihm, seiner großen Liebe, das Ziel. Bete. Es wird wieder Frühling nach diesem kalten Winter, es wird auch einmal wieder die Friedenssonne scheinen, wenns auch noch einige Winter dauern soll.« Was Lina Scholl selbstverständlich voraussetzt, ist für Sophie Scholl eine schmerzliche Anfrage. Am 12. Februar notiert sie in ihr Tagebuch: »Ja, was ich am wenigsten an Gott begreife, ist seine Liebe. Und doch, wüsste ich nicht von ihr! O Herr, ich habe es sehr nötig, zu beten, zu bitten.« Die ganz tiefe Verzweiflung über den fernen Gott hat sich gelegt, die extreme Unruhe ist einer kleinen Zuversicht gewichen: »Ich kenne Gott ja noch gar nicht …, aber er wird mir das verzeihen, wenn ich ihn bitte.«
Könnte es sein, dass Sophie Scholl weniger nach Hause fährt, weil sie sich – bei aller Liebe – von der Mutter und der Schwester bedrängt fühlt, die sie beide auf ihre Weise im Glauben stärken wollen? In ihrem Brief vom 4. Februar schreibt Inge Scholl der Schwester, sie habe begonnen, »bei Thomas den Band 6 zu lesen ›Wesen und Ausstattung des Menschen‹, … Vielleicht kann ich Dir einmal, wenn ich damit fertig und alles in mir aufgegangen und wachgerufen ist, mehr über das Wesen der Seele schreiben«. Damit nicht genug: »Und wenn Du dann mit dem Studium beginnst und viel Zeit hast, würde ich Dir raten, Dich auch hinter diesen Band zu machen. Dann legen wir zu dem Augustinus auf den Nachttisch noch den Thomas.« Sophie Scholl wird sich erinnern, dass die Schwester in Gedanken schon die Tagebücher Kierkegaards auf Sophies künftigem Nachttisch gestapelt hatte. Inge Scholl ist von einer unnachgiebigen Entschlossenheit auf dem Weg zur Seligkeit: »Ich selbst verzichte zur Zeit gern auf alles andere, auch auf das Klavierspiel, denn brennend gern möchte ich mit den grundsätzlichen Fragen ins Reine kommen.«
Mitte Januar berichtet Sophie ihrer Freundin Lisa, was eine Musik im Radio bei ihr ausgelöst hat. Es war ein »herrlich klares, stolzes und lebensfrohes Quartett aus der Zeit Bachs, von solcher Unsentimentalität und wunderbaren Härte (da fällt mir das Wort ein: Il faut avoir l’esprit dur et le cœur tendre). Das ist gut. Musik bringt es am ehesten fertig, mein stumpfes Herz in Aufruhr zu bringen. Und das ist ja nötig, Voraussetzung für alles andere«. Die Musik wird zum Gradmesser für das, was die Machthaber Sophie Scholl vorenthalten: »Dann hatte ich (in der Umgebung, in der ich mich befand) ein solches Verlangen, dieselbe klare Luft zu atmen, wie jene Menschen, die das Stück geschaffen haben.« Musik hat die Kraft, den geistigen Mangel zu ersetzen: »Und schon dies Verlangen hat genügt, mich ein bisschen aus dem umgebenden Schlamassel, einem zähen Brei, einem feindlichen Brei gleich, herauszuheben. Ich will versuchen, wieder in der Kirche Orgel spielen zu dürfen.« Wie schon im Lager Krauchenwies wird der Kirchenraum zur Zuflucht, wo sie auftanken kann.
Die Briefe an Lisa Remppis gehören zu den raren direkten Aussagen von Sophie Scholl, die wir aus diesen Monaten haben. Das meiste über sie muss abgeleitet werden aus den Briefen ihrer Mutter, ihrer Schwester und von Fritz Hartnagel. Sie alle versuchen in ihren Antworten, auf Sophie Scholls Situation einzugehen. Doch Vorsicht ist geboten. Es ist kaum auseinanderzuhalten, wieweit die Wiedergabe von Sophie Scholls Situation von den Problemen und Stimmungen derer eingefärbt ist, die auf ihre Briefe antworten. Ob Inge Scholl zum Beispiel, die alles mit dem Gefühl angeht, aus den Schilderungen der Schwester anderes herausliest als das, was gemeint ist. Kann sie einen Menschen, der Härte und Unsentimentalität über alles schätzt, wirklich verstehen? Interpretiert Inge Scholl die Briefe Sophie Scholls vielleicht dramatischer, als sie sind?
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