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Sophie Scholl

Sophie Scholl

Titel: Sophie Scholl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Beuys
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untereinander, von Ausflügen und Vergnügungen berichten, ohne Ernst zu erwähnen, der – dafür steht das Foto – zur Familie gehörte? Wenn in der Diele im Forchtenberger Rathaus alle Kinder am Tisch saßen, werden es nicht fünf, sondern in Wahrheit sechs gewesen sein.
    Dank dem Foto hat Ernst ein Gesicht. Dass er auch einen eigenen Namen hat, erfährt, wer sich in Forchtenberg eine Ausstellung mit Texten und Fotos über die Kindheit von Hans und Sophie Scholl ansieht: »Zusammen mit dem Pflegesohn Ernst Gruele lebte die Familie Scholl bis Anfang 1930 fast 10 Jahre im Rathaus …« Die Künstlerin Renate S. Deck hat in vielen Interviews noch lebende Zeitzeugen zum Reden gebracht, die Ausstellung erarbeitet und in Forchtenberg das Bewusstsein geweckt, dass die Stadt ein wichtiger Abschnitt auf dem Lebensweg der Geschwister Scholl ist. In ihrem Atelier im Würzburger Tor hat sie ihnen mit der Gedenkstätte »Weiße Rose i-punkt« einen dauerhaften Erinnerungsort geschaffen. Ernst Gruele dagegen ist in der Familien-Erinnerung offensichtlich tabu; er blieb in Forchtenberg, als die Scholls 1930 fortzogen. Doch im Frühjahr 1943 taucht er mit einem Brief unerwartet unter den unzähligen Scholl-Dokumenten wieder auf. Wir werden davon hören.
    Kurz nach Weihnachten erschien im Dezember 1929 im »Hohenloher Boten« unter der Überschrift »Schulzenwahl« eine Anzeige: »Weihnacht ist vorüber heuer / Für viele wars ne trübe Feier / Haben wir doch große Qual / Wegen unsrer Schulzenwahl / Ach es ist ein großer Jammer / Alles schreit »ich wähle Kramer« / Wir haben doch die Nase voll / Und wählen wieder Scholl.« Nach zehn Jahren lief die Amtszeit des Schultheißen aus, und der achtunddreißigjährige Robert Scholl stellte sich zur Wiederwahl. Wie sehr es ihn traf, dass ein Gegenkandidat antrat – noch dazu zehn Jahre jünger –, wie wenig gelassen er mit Kritik umgehen konnte, spiegelt sich in seinem »Rechenschaftsbericht«, den er am 15. Dezember, dem 3. Advent und »Silbernen« verkaufsoffenen Sonntag, bei einer Wahlversammlung in der Turnhalle vortrug.
    Robert Scholl konnte eine eindrucksvolle Bilanz vorweisen und zahlreiche Projekte aufzählen, mit denen er sein Versprechen, Forchtenberg an die neue Zeit anzuschließen, wahrgemacht hatte. Doch Robert Scholl war tief gekränkt, dass nicht alle Forchtenberger seiner Amtsführung, seinen Ideen und seinem unermüdlichen Arbeitseinsatz vorbehaltlos gegenüberstanden: »Bis jetzt habe ich in Forchtenberg nur arbeitsreiche, schwere und sorgenvolle Jahre verlebt, dabei ganz wenig Freude und Anerkennung erfahren. … Ich habe noch nie einen leichten Lebensweg gehabt, aber kein Abschnitt meines Lebens war so schwer, als der bisher in Forchtenberg zugebrachte.«
    Diplomatisch war das nicht, denen, deren Stimme man für die Wahl gewinnen wollte, Undank vorzuwerfen und im Selbstmitleid zu schwelgen. Der ausgewiesene Demokrat Robert Scholl setzte alles auf eine – fragwürdige – Karte: »Heute habe ich keine andere Existenz in Aussicht und kann mich mit meiner Familie nicht auf die Straße setzen. Die Wiederwahl ist für mich nicht nur eine Prestigefrage, sondern auch eine nackte Existenzfrage.« Zum Schluss bittet er »diejenigen Männer und Frauen, die glauben, dass ich die Geschäfte und Geschicke der Gemeinde zusammen mit dem Gemeinderat richtig zu führen imstande bin … am 29. Dezember mir die Ehre zu erweisen und für mich einen Wahlzettel auf das Rathaus zu tragen.« Punkt, Ende möchte man rufen. Doch Robert Scholl kann es nicht lassen, seinen potentiellen Nichtwählern noch einen kräftigen Hieb zu versetzen: »Meinen Gegnern aber sage ich: Wer von Euch ist ohne Fehl, Der wirft den ersten Stein auf mich!« Am Schultheiß Robert Scholl schieden sich – noch mehr als zu Beginn seiner Amtszeit vor zehn Jahren – die Geister in dem kleinen Städtchen. Und seine Bilanz war nicht darauf angelegt, die Gemüter zu beruhigen.
    Am 29. Dezember 1929 kamen 477 von 518 wahlberechtigten Forchtenberger Bürgern und Bürgerinnen zwischen 11 und 16 Uhr ins Rathaus und gaben ihre Stimme ab; zwei davon waren ungültig. Robert Scholl erhielt 176, Friedrich Kramer, Obersekretär in Bad Mergentheim, 299 Stimmen. Wie das Gesetz es vorschrieb, wurde das Wahlergebnis am folgenden Tag durch Ausschellen in den Straßen und einen Anschlag am Rathaus verkündet.
    Noch keine Woche später, am 4. Januar 1930, erschien im »Hohenloher Boten« ein anonymes Lob auf den Wahlverlierer:

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