Sophie Scholl
»meine Enkel Inge, Hans, Lise, Sofie, Werner ein jedes 10 Mark« bekommen. Für sich selbst hatte sie »nur den Wunsch, dass mich der gnädige dreieinige Gott in seinen Himmel aufnimmt und ihr alle einander lieb habt und teilt das Wenige, das ich Euch hinterlasse, in Frieden«.
Das erste Jahr auf der Oberrealschule und bei der Großmutter in Künzelssau ging zu Ende, und Inge Scholl freute sich schon auf das Osterfest mit Eltern und Geschwistern in Forchtenberg. Doch zuvor erfuhr die Zwölfjährige, wie ein langes Menschenleben sanft und ohne Aufhebens zu Ende gehen kann und dennoch eine schmerzliche Leere hinterlässt. Am 25. März 1929 saß Lina Scholl im Häuschen ihrer Mutter in Künzelsau und schrieb an ihre Schwester Elise und deren Mann in Backnang: »Es ist nun unsre Mutter so rasch von uns gegangen, still und schmerzlos, wie sie sichs gewünscht hat. Es ist mir wie im Traum, dass wir sie nicht mehr sprechen hören dürfen und nicht mehr ihr liebes Gesicht sehen. … Wenn es so geht, wollen wir Mutter am Gründonnerstag um 3 Uhr beerdigen lassen.«
Und sie schildert, wie der Tod zu Sophie Müller und der Enkelin kam: »Inge war allein beim Sterben, gestern Abend um 8 Uhr. Sie arbeitete so umher, … da merkte sie, als sie fragte, ob sie nun den Kaffee wärmen dürfe, dass Mutter den Mund offen hatte, ging hin, nahm ihre Hand und nach 3 Atemzügen war alles vorüber. Mutter merkte wohl nichts davon, vorher betete sie noch wie sonst beim Abendläuten.« Inge informierte die Eltern, der Schultheiß hatte Telefon. Am Gründonnerstag, dem 28. März 1929, wurde die achtundsiebzigjährige Sophie Müller zu Grabe getragen.
Als nach den Osterferien das neue Schuljahr begann, fuhr Inge mit Hans und Liesl, die nun ebenfalls in die Künzelsauer Realschule gingen, täglich in aller Frühe mit dem 5-Uhr-Zug von Forchtenberg nach Künzelsau. Lina Scholl hatte mit dem Zugführer ausgemacht: Wenn die Stadtbeleuchtung an ist – und die konnte sie im Rathaus anschalten –, bitte auf die Kinder warten; wenn alles dunkel, kein Bedarf. Zurück mit den Eltern blieben Sophie und Werner, die zusammen durchs Brunnentor zur Schule wanderten und sich ohne den großen Geschwisterkreis noch näher kamen. Es war eine kleine Runde, die jetzt mittags in der Wohndiele um den Tisch saß.
Es gab während der Zeit in Forchtenberg noch jemanden im Kindesalter, der zur Scholl-Familie gezählt wurde. Aber wie soll man einem Schatten Kontur und Leben geben? Sein Name ist Ernst Gruele, doch er taucht in keinem der Briefe oder Erinnerungen der fünf Scholl-Geschwister oder der Eltern auf; nicht in Robert Scholls handschriftlichen Lebensläufen; nicht im Buch von Inge Aicher-Scholl über »Die Weiße Rose«, nicht in ihrem Aufsatz »Im schönsten Wiesengrunde« über die Kindheitsjahre in Forchtenberg. Am 22. November 1928 schreibt der »Hohenloher Bote« über eine Opernaufführung in Forchtenberg: »Etwas ganz Besonderes bot der hiesige Schülerchor. Diesmal trat er in der Turnhalle mit der Uraufführung der von Lehrer Willi Weber und Gattin verfassten und vertonten Märchenoper ›Das zerbrochene Krönlein‹ in die Öffentlichkeit. … Das Spiel wurde von allen von Anfang an bis zu Ende mit Hingebung durchgeführt. … Auch der König (Ernst Scholl) war Meister seiner Sache.« Für die Forchtenberger gehört Ernst Gruele zur Familie Scholl, bis heute. Fragt man einen Forchtenberger, dessen Familie seit mindestens zwei Generationen in der Stadt am Kocher lebt, nach »Ernst«, kommt die Antwort ohne Zögern: »Er war ein unehelicher Sohn von Robert Scholl.« Woher man das wisse? Von den Eltern, die zusammen mit den Scholl-Kindern in Forchtenberg aufgewachsen sind. Aber mehr ist nicht zu erfahren.
Eine der wenigen Spuren führt in das stattliche Fachwerkhaus der Forchtenberger Steinmetz- und Bildhauerfamilie Kern, 1593 gebaut. Es ist als Heimatmuseum eingerichtet, und eine Abteilung ist der Familie Scholl gewidmet. Unter den Fotos befindet sich eines, auf dem die ganze Familie, zum Gruppenbild am Eingang der Forchtenberger Schule arrangiert, konzentriert in die Kameralinse schaut. Zwischen Robert Scholl, schlank und gut gekleidet, und Lina Scholl, die sich selbstbewusst auf eine Treppenstufe stellte und alle überragt, steht kerzengerade der »Pflegesohn«, wie die Bildunterschrift sagt. Offensichtlich das älteste von allen Kindern, doch auch das bleibt eine Vermutung. Wie konnten Inge Scholl und ihre Geschwister von den Spielen
Weitere Kostenlose Bücher