Sophie Scholl
Es hat mich zwar beruhigt, dass Ihr einen guten Arzt habt, und Sofiele von Mutters Pflege sicher gesund werden wird, alles andere liegt in Gottes Hand.« Das schrieb Großmutter Sophie in Künzelsau am 18. Dezember 1927 an Lina Scholl in Forchtenberg. Und zum Briefende: »Ich wünsche Sofiele gute Besserung, sie soll sich an der Schokoladentafel gesund essen. Behüt Euch Gott und seid herzlich gegrüßt von Eurer dankbaren Mutter und Großmutter.« Seit drei Jahren war sie Witwe, doch die Koordinaten, nach denen sie ihr Leben ausrichtete, blieben unverändert: ein inniges Verhältnis zu ihren Kindern und deren Familien, Dankbarkeit, die sie in Worte fasste, und ein unerschütterliches Gottvertrauen.
Der gute Arzt, den die Großmutter erwähnt, war Dr. Ferdinand Dietrich. Robert Scholl hatte ihn im Herbst 1927 überreden können, in Forchtenberg, wo es seit Jahren keinen eigenen Arzt gab, seine Praxis zu eröffnen. Ortsvorsteher Scholl gibt in der Gemeinderatssitzung vom 2. September über Dr. Dietrich zu Protokoll, dass »nach seinen vorgelegten Zeugnissen bestimmt angenommen werden kann, dass er mehr als ein Durchschnittsarzt ist«. 1929 wird ein eigenes Arzthaus errichtet. Neben dem Pfarrer, den Lehrern und dem Apotheker gehört Dr. Dietrich nun zu den Forchtenberger Honoratioren, die – wie ihre Kinder – privat-gesellige Kontakte pflegen.
»Herr Dr. Dietrich ist ein Idealist mit aufgeschlossenem Sinn und Herzen für seine Mitmenschen – wenn es darauf ankommt, auch ein Draufgänger, der sich selbst am wenigsten schont. … Wir unterhielten uns manchmal auch über politische Fragen. Dabei gingen unsere Ansichten meist ganz auseinander, weil ich selbst politisch links stand. Dies schmerzte ihn oft, ohne dass er gegen mich intolerant wurde.« So charakterisierte Robert Scholl 1946 im Spruchkammer-Verfahren Dr. Dietrich, 1931 in die NSDAP eingetreten und überzeugter Nationalsozialist. Der Kontakt zwischen den Familien Scholl und Dietrich blieb auch nach der radikalen politischen Wende 1933 bestehen.
Nicht nur der Arzt, auch der evangelische Pfarrer von Forchtenberg stand in einem anderen politischen Lager als der Ortsvorsteher. »Sie lesen das?«, bemerkte der Kirchenmann abschätzig, als er im Hause Scholl die Wochenschrift »Die Menschheit« sah. Wer diese Zeitschrift abonnierte, war politisch klar einzuordnen: als Demokrat und Verteidiger der Weimarer Republik, Gegner einer militaristischen und nationalistischen Politik. In diesem Sinne schrieb der Kulturphilosoph, Pädagoge und Begründer der politischen Bildung, Friedrich Wilhelm Foerster, 1920 von Rechtsradikalen aus seiner Münchner Professur und aus Deutschland vertrieben, jede Woche in der »Menschheit« ein »Streiflicht«. Einem wie Robert Scholl, der mitten im Ersten Weltkrieg und frisch verheiratet seiner Frau begeistert über die Friedenspolitik des US-Präsidenten Wilson schrieb, sprach Foerster aus dem Herzen. Seine Werke wurden bei der »Bücherverbrennung« vor der Berliner Oper am 10. Mai 1933 »den Flammen übergeben«, er selbst als »Gesinnungslump und politischer Verräter« geschmäht. Ob als Sanitäter im Ludwigsburger Lazarett oder als Schultheiß in Forchtenberg, politisch war Robert Scholl ein Außenseiter.
Am 1. Mai 1928 wurde Sophie Scholl eingeschult, am 9. feierte sie ihren siebten Geburtstag. Inge, die Älteste, hatte die Aufnahmeprüfung in die Oberrealschule von Künzelsau bestanden und dort das neue Schuljahr begonnen. Eine ungewohnte Situation für die ganze Familie, denn um sich die tägliche Zugfahrt zu ersparen, lebte Inge Scholl nun die Woche über bei der Großmutter in Künzelsau und kam nur am Wochenende nach Hause. Am 4. Mai 1928 schrieb Großmutter Sophie: »Liebe Lina! Ich gratuliere Dir herzlich zu Deinem Geburtstag, wünsche Dir Gottes Segen und viel Freude. Inge hat ja soviel Aufgaben auf, dass sie ihre Arbeit unmöglich fertig bringt. Heute ist sie schon um ¾ 6 Uhr aufgestanden und lernte, weil es ihr am Abend zu schwer ging.« Wie wohltuend ist eine Großmutter, die ihre Enkelkinder versteht.
Um diese Zeit hatte die Großmutter ihr Testament schon gemacht: »Meine Lieben alle! Wer weiß, wie nahe mir mein Ende, darum will ich bei Zeit mein Haus bestellen. An meinem Grab soll nur ein Gebet gesprochen werden, das übrige überlasse ich Euch.« Nüchtern und frohen Mutes, so wie sie gelebt hatte, bereitete Sophie Müller ihren letzten Gang vor und dachte auch darüber hinaus. Am Tag der Konfirmation sollten
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