Sophie Scholl
Daheim badet sie jeden Abend und geht früh zu Bett. Ihr Darm ist besser.« Es kommt eine Menge zusammen für Sophie Scholl: am 23. Ernst Reden gefallen, seit dem 24. der Vater im Gefängnis, und ungefähr um dieses Datum beginnt Sophie Scholl den verhassten »Kriegshilfsdienst« in der Schraubenfabrik Constantin Rauch. (Die bisherige Überlieferung, Sophie Scholl habe in der Rüstungsfabrik Vernor gearbeitet, wird durch einen Ausweis der Fabrik Constantin Rauch widerlegt, Sophie Scholl »ist berechtigt, um 17 Uhr den Betrieb zu verlassen«.) Ist Sophie Scholl wirklich munter?
Drei Tage nach dem Prozess, am 6. August, schreibt sie in ihr Tagebuch: »So schwach bin ich, dass selbst das von mir Erkannte nicht in meinem Leben wahr und wirksam wird …« Es gelinge ihr nicht, sich Gottes Willen zu überlassen: »Und doch möchte ich es und bin glücklich bei dem Gedanken, dass er es ist, der alles regiert.« Sie bittet Gott um ein mitleidiges Herz: »Ein Kind kann mitleiden, aber ich vergesse oft die Schmerzen, die mich erdrücken müssten, die Schmerzen der Menschen.« In ihrer Eintragung vom 9. August spricht sie von »seltsam bedrückenden Gefühlen«, die ihre Träume beherrschen. Zugleich wundert sie sich über »fromme Leute«, die um die Existenz Gottes fürchten, weil Menschen versuchen, seine Spuren auszulöschen. Sie spüre, dass alles in Gottes Hand liegt und will sich keiner Untergangsstimmung hingegeben. Jeder Mensch müsse jederzeit damit rechnen, von Gott zur Rechenschaft gezogen zu werden: »Eine Bombe könnte uns heute Nacht alle vernichten. Und dann würde meine Schuld nicht kleiner, als wenn ich mit der Erde und den Sternen untergehen würde.« Es dominiert der Wille, nicht zu verzweifeln, und über dem eigenen Unglück nicht das Leid der anderen zu vergessen. Möglich wird es, weil Sophie Scholls Glaube gewachsen und der ferne Gott näher gekommen ist. Sie kann ihn spüren, und das hat Folgen für die Lebensplanung. In einem Brief vom 31. August freut sich Fritz Hartnagel mit Sophie Scholl »auf die neue 2-Zimmer-Wohnung« in München. Keine Rede mehr davon, das Studium aufzugeben. Sophie Scholl hat nach dem milden Urteil für ihren Vater schon für das Wintersemester geplant.
Jeden Abend baden, früh ins Bett gehen: Sophie Scholls Disziplin in diesen Wochen erinnert an ihr Lagerleben beim Arbeitsdienst, als sie der massiven Freiheitsbeschränkung ihre eigenen Strukturen entgegensetzte. Auch jetzt hat der staatlich verordnete Kriegshilfsdienst sie wieder im Griff. Sie muss am Morgen früh raus; die Schraubenfabrik liegt etwas außerhalb von Ulm. Auch jetzt ist sie entschlossen, den äußerlichen Widrigkeiten zu trotzen. Eine fast aufmüpfige Stimmung durchzieht ihren Brief an den Vater, den sie dem Schreiben der Mutter vom 2. September beilegt. Sie habe nie Sorge gehabt, »dass Dein guter Mut durch Deine sogenannte Strafe gebrochen werden könnte«. Sie ist überzeugt, »dass diese Zeit für Dich notwendig ist und in einem uns noch unbekannten Sinne sogar das Beste für Dich«. Was dann folgt, erinnert an den Aufruf im vierten »Flugblatt der Weißen Rose«, wo es heißt: »Vergesst auch nicht die kleinen Schurken dieses Systems, merkt Euch die Namen, auf dass keiner entkomme!« Sie werde »nicht das kleinste Wort derer vergessen, die es soweit gebracht haben«, verspricht Sophie Scholl ihrem Vater. Das ist ein kaum verhüllter Blick in eine andere Zukunft, wenn Menschen wie Robert Scholl nicht mehr im Gefängnis sitzen, dafür aber die, die jetzt die Macht haben.
So offen wie der Brief bis dahin ist, schildert sie auch die Erfahrungen ihrer Fabrikarbeit. Sophie Scholl findet es »entsetzlich, dass viele Menschen täglich 10 Stunden ihres ganzes Lebens von dieser geist- und leblosen Beschäftigung in Anspruch genommen sind«. Wieder ein kurzer doppeldeutiger Blick in die Zukunft: »Doch der Betrieb ist ja kriegsmäßig und nachher wird sich das ändern. Hoffentlich. Mich hat das Schicksal so vieler doch tiefer berührt, als wenn ich bloß von außen geurteilt hätte.« Die Mutter hatte in ihrem Brief schon geschrieben, dass Sophie Scholl auch von einem Einzelschicksal berührt wurde: »Ein russisches 16jähriges Mädchen arbeitet neben ihr, der bringt sie ein Pausenbrot, weil die keines bekommen.« Im Oktober 1942 arbeiten etwa 1000 Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen in Ulm. Über den ganzen Krieg sind es insgesamt rund zehn Millionen Menschen, die aus ihrer Heimat nach Deutschland verschleppt
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