Sophie Scholl
beteiligen muss, wie die Älteste schon lange? Am 22. März heißt es rückblickend auf den »Tag von Potsdam«: »Große Parade und Feldgottesdienst auf dem Münsterplatz und große Putzerei zu Hause!« Es ist nicht auszuschließen, dass Lina Scholl das Großreinemachen anordnete, um ihre Kinder wenigstens für eine Weile von der nationalen Feier abzuhalten, die ihr und ihrem Mann schrill in den Ohren klang – und dass Inge Scholl ihrem Missmut darüber keinen direkten Ausdruck geben will. Denn Vater und Mutter sind Autoritäten, von denen das Wohlbefinden und die Stimmungen der Kinder abhängen.
Tagebuch, Anfang März: »Vater ist heute wieder gallensteinleidend. Das muss furchtbar sein. Er ist dann auch sehr schlecht aufgelegt.« Der Hinweis auf die Gallensteine klingt wie eine Entschuldigung der schlechten Laune. Das Verhältnis zwischen Töchtern und Vätern ist unkomplizierter als zwischen Töchtern und Müttern, zumal in der Pubertät. »Fürchte mich, dass ich mich Mutter entferne. Gott möge das verhindern«, war Inges Sorge Ende Januar. Um so größer ihre Erleichterung am 11. Februar: »Mutter heute sehr lieb zu uns. Ja, da lohnt sich’s zu leben, wenn die Mutter so lieb ist!«
Dem Tagebuch kann man alles anvertrauen: banale, deshalb nicht weniger drückende Alltagssorgen ebenso wie Sehnsüchte und große Worte, die Ziele setzen, weil sie eigene Überzeugungen ausdrücken. Unter dem 13. April hat Inge Scholl das Zitat einer gewissen Elisabeth Kluge eingetragen: »Wisst ihr, was Deutschland nötig war – Starke Frauen, Jünglinge, Mädels … Wir wollen Frauen und Mütter werden, Mädels mit tiefem deutschen Gemüt, Mädels aus altem Germanengeblüt … Das ist’s, was Deutschland nötig war.« Das Tagebuch ist auch ein sicherer Hort für geheime Gedanken, die man den Eltern lieber nicht mitteilt. Aber vielleicht den Schwestern, wenn man zu dritt im Mädchen-Zimmer zusammen ist.
Zwei Dinge enthüllen die Tagebuch-Eintragung im April 1933: Inge Scholl ist endgültig für das »neue Deutschland« des Adolf Hitler gewonnen, und sie hat einen Verbündeten in der Familie – ihren Bruder Hans. Nicht ausgeschlossen ist, dass die jüngeren Geschwister, zumal die Schwestern, Inge bewundern für all das Neue, das sie in der Schule erlebt. Nur sind sie als familiäre Mitstreiterinnen noch zu jung.
Am 23. April bekommt Inge Scholl in der Schule »ein Buch vom Krieg« geschenkt: »Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis«. Das Buch von Walter Flex erschien 1917 und wurde sofort ein Kultbuch, das den Krieg als sittliche Prüfung glorifiziert, Sieg und Opfertod als heilsame Bewährung für das Vaterland. Walter Flex fiel 1918 an der Ostfront. Sein Gedicht »Wildgänse rauschen durch die Nacht mit schrillem Schrei nach Norden«, das vom »grauen Heer in Kaisers Namen« erzählt, für das es keine Wiederkehr gibt, ist bis heute als Lied in aller Munde –»rauscht uns im Herbst ein Amen«. Inge Scholls Kommentar: »Prima!« Am nächsten Tag wird die neue NS-Nationalhymne geprobt: »In der Schule 2x Horst-Wessel-Lied – prima!« Nun singt auch sie voll Überzeugung: »Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen! SA marschiert mit ruhig festem Schritt … Die Straße frei den braunen Bataillonen …«
Am 30. April 1933 macht die Fünfzehnjährige eine ungewöhnlich lange Eintragung. Ein Familien-Drama, der politische Umbruch in der Welt draußen und ihre innere Entwicklung fügen sich ineinander und demonstrieren, dass die Scholl-Kinder von nun an in einem gespaltenen Kosmos leben. Inge und Hans Scholl jedenfalls haben Brücken betreten vom familiären Eiland zu den Menschen ringsum. »Wir ganz allein« hat seine Attraktivität verloren und gilt nicht mehr. Attraktiver als die Eltern sind gleichaltrige, gleichgesinnte Jugendliche geworden. »Wir mit den anderen« heißt die neue Parole – für Adolf Hitler. Denn auf ihn ist alles ausgerichtet im neuen Leben der beiden ältesten Scholl-Kinder.
Inge Scholl ist gut informiert und völlig einverstanden mit dem, was sich tut: »Hitler wird jetzt die einzelnen Jugendverbände auflösen. Die Hitlerjugend erstürmt ein Heim nach dem andern. Das ist gut. Da wird Deutschland immer einiger. Die nächste Woche wird sich entscheiden, ob Hansens Verein, das Jungvolk, geschlossen zur Hitlerjugend übertreten wird. Ich möchte in den BDM (Bund Deutscher Mädel) gehen.« Das Ziel ist klar: für Hans die Hitlerjugend (HJ) – eine andere Zukunft kann sich Inge
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