Sophie Scholl
meisten. Es goss in Strömen und in meinen Schuhen quietschte das Wasser – aber Disziplin muss sein.« Im Festzug zogen außer den bürgerlichen Vereinen, den Gewerkschaften, den NS-Gruppen, den Leitern von Ämtern und Museen auch die Angestellten der Evangelischen Kirche Ulms durch die Stadt.
Am 2. Mai 1933 vollzogen die Nationalsozialisten in Ulm, was ebenfalls sorgsam geplant war: Polizei und SA besetzten das Gewerkschaftshaus, die Funktionäre, gestern noch im Mai-Zug mitmarschiert, wurden verhaftet und in »Schutzhaft« genommen, das Gewerkschaftsvermögen ersatzlos eingezogen. In anderen Städten wurden Gewerkschafter gefoltert, mit Peitschen durch die Straßen getrieben, etliche ermordet. Am 10. Mai 1933 werfen vor der Berliner Oper Studenten unter dem Beifall der Umstehenden, angeführt von Propagandaminister Joseph Goebbels, Wagenladungen von Büchern ins Feuer, um verhasste Autoren und deren Werke symbolisch zu vernichten – »gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Gläser und Erich Kästner«, um nur einen der »Rufe« zu zitieren. In der Provinz mahlten die politischen Mühlen etwas langsamer. Doch unter dem 15. Juli notiert Inge Scholl, seit einem Monat Mitglied im Bund Deutscher Mädel (BDM):
»Eben komme ich vom Münsterplatz. Dort war eine Feier. Alle Schund- und nicht deutsche Schriften und Fahnen wurden auf einen Haufen gebracht und verbrannt. Wie lustig das Feuer prasselte. Jemand hielt eine Rede. Dann wurden das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied gesungen. … Die Hitler-Jugend, Jungvolk und BDM machten einen Propagandamarsch vorher.« Der »Jemand« war der NSDAP-Ortsgruppenleiter, der vor rund 800 Jugendlichen von der »tiefsten Verachtung« gegenüber jenen sprach, »die unser Volk in 14 Jahren in Sklaverei verführten, während sich auf allen Gebieten beispiellose Entsittlichung und Entartung breitmachte. Diese Flammen sollen symbolisch alles verbrennen, was noch schlecht im deutschen Volke ist«. Das berichtete unter dem Titel »Jugend im neuen Geist« zwei Tage später das »Ulmer Tagblatt« über die »eindrucksvolle Kundgebung, der eine große Zuschauermenge beiwohnte«.
Am 25. Juni 1933 hatte Inge Scholl notiert: »Gestern war der Tag der deutschen Jugend.« In Ulm wie im ganzen Reich brachten die Nationalsozialisten mit einem ausgeklügelten Programm, das am Abend eine Sonnwendfeier einschloss, wieder Tausende zu Massenveranstaltungen auf die Beine. Am Vormittag des 24. Juni zogen 4850 Schülerinnen und Schüler aller Ulmer Schulen vom 3. Schuljahr aufwärts »in flottem Marsche und mit fröhlichem Singen« (Ulmer Tagblatt) zu verschiedenen Wettkampfstätten. Gleichaltrige Klassen traten im Dreikampf gegeneinander an, um dem »Gemeinschaftsgeist« zu dienen. Inge Scholl gibt im Tagebuch keine Hinweise auf ihre anderen Geschwister; sie war viel zu sehr mit dem BDM in das Nachmittagsprogramm eingebunden, das eigentliche Fest.
Dazu traten zwischen 14 und 18 Uhr die Mitglieder sämtlicher Jugendorganisationen von Ulm, Söflingen und Wiblingen im großen Stadion an. Knapp 4300 Jugendliche hatten sich in der Grenadierkaserne gesammelt und marschierten in fünf Blocks, jeder durch eine Hakenkreuzfahne markiert, in Richtung Stadion; vorweg Hitlerjugend, darunter Hans Scholl, und der Bund Deutscher Mädel, darunter Inge Scholl. Im Stadion, wo Musikkapellen für Unterhaltung während der Wettkämpfe sorgten, warteten rund 7500 Zuschauer. Vieles spricht dafür, doch es muss offen bleiben, ob Sophie Scholl am Nachmittag miterlebte, wie der Redner die Jugendlichen einschwor »auf das Werk unseres Gottes und das große Wollen unseres Volksführers Adolf Hitler« und als Treuegelöbnis »Ein Gott! Ein Führer! Ein Volk« durch das Stadion hallte.
»Am Abend war ein Fackelzug«, heißt es bei Inge Scholl. Wer durch die Stadt ging, konnte sich den Eindrücken und Stimmungen nicht entziehen: »Uniformen und Kluften, braun und in allen Farben, flatternde Fahnen, frohes Singen, Musik und Trommelwirbel, überall festgestimmte, fröhliche Jugend«, schrieb das »Ulmer Tagblatt« am nächsten Tag. Obwohl es regnete und schwerer Wind aufkam, zog in der Abenddämmerung »die halbe Stadt« zum Fort Albeck, wo ein riesiger Holzstoß aufgerichtet war. HJ und BDM, Reichswehr, Polizei und SA sind aufmarschiert, Militärkapellen und ein Wald von Hakenkreuzfahnen säumen den Feuerplatz.
Gegen 22 Uhr
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