Sophie Scholl
Scholl für das Jungvolk im CVJM, »Hansens Verein«, gar nicht vorstellen – und für sie selbst den Bund Deutscher Mädel, ein weibliches NS-Pendant innerhalb der HJ. Inge Scholl fügt noch ein persönliches, emotionales Bekenntnis an: »Jedes deutsche Mädchen, das Nazi sein will, ist Hitler schuld, dass es sich äußerlich und innerlich rein hält. Das sind wir alle Hitler schuldig.«
Hitler, immer wieder Hitler. Inge Scholls Tagebuch ist im Kleinen ein getreuer Spiegel der großen Politik und gesellschaftlichen Realitäten, der Schlagzeilen in den Zeitungen, der Kommentare in den Radiosendungen, der Reden auf Vereinsfesten, der Artikel in kirchlichen Gemeindeblättern. Fast drei Generationen sind vergangen, seit die nationalsozialistische Diktatur ihren Anfang nahm. Diese Anfänge mögen den Nachgeborenen unverständlich, irrational oder auch nur lächerlich erscheinen. Doch die historischen Fakten sind eindeutig. Ob es die Sehnsucht nach alten Zeiten oder die Hoffnung auf eine neue moderne Welt war, ob das Ideal eines christlichen Staates oder einer klassenlosen Gesellschaft hinter dem Aufbruch stand, der so viele ergriffen hatte: Alles konzentrierte sich im Frühjahr 1933 auf die Person des Reichskanzlers wie auf einen Erlöser.
Hitlers 44. Geburtstag wird als nationales Ereignis gefeiert. »Gestern abend war wegen Hitlers Geburtstag ein großes Feuer auf der Burg«, notiert Inge Scholl am 21. April. Die Ausgabe der bürgerlichen »Münchner Neuesten Nachrichten« vom gleichen Tag kommentiert: »Die begeisterte Anteilnahme an dem persönlichen Ehrentag des Kanzlers hat den Beweis dafür geliefert, dass Adolf Hitler im Bewusstsein des ganzen Volkes als Führer anerkannt ist und dass ihm das Herz Deutschlands gehört.« Warum soll die fünfzehnjährige Inge Scholl nicht mitgerissen werden vom Strom der Begeisterung, der ein ganzes Volk erfasst hat? Warum soll ihr Bruder, der vierzehnjährige Hans Scholl, sich zu Hause nicht sichtbar zu dem Mann bekennen, der in der Welt außerhalb der Scholl-Familie einmütig als der Retter Deutschlands gepriesen und verehrt wird?
Von diesem Drama erzählt das Tagebuch ebenfalls unter dem 30. April 1933. Das zähe, zeichenhafte Ringen zwischen Vater und Sohn hat sich während des April und auf offener Familien-Bühne zugetragen: »Hans hat eine feine Radierung von Hitler. Sie hängt im Kinderzimmer. Vater hat sie am Anfang jeden Tag, wenn er vom Geschäft heimkam, weggehängt und in eine Schublade getan. Hans hat sie aber jedesmal wieder an ihren Platz getan, bis Vater schließlich nachgegeben hat. Er ist jetzt auch mehr für Hitler. Ich bin froh!« Keine Frage, wer für die Geschwister – Sophie Scholl inbegriffen – in diesem Zweikampf Sieger blieb. Und Hans Scholl wusste, dass er in diesem Kampf nicht allein war und – von der allgemeinen Begeisterung und seiner Schwester Inge abgesehen – auch die auf seiner Seite standen, die für ihn in der CVJM-Gemeinschaft Vorbild waren.
Am 28. März hatte das »Ulmer Tagblatt« eine Erklärung des CVJM abgedruckt: »Das Volk steht auf. Eine Bewegung bricht sich Bahn, die eine Überbrückung der Klassen, Stände und Stammesgegensätze verheißt. In dieser Stunde soll die evangelische Jugend Deutschlands wissen, dass ihre Führerschaft ein freudiges Ja zum Aufbruch der Deutschen Nation sagt.« Niemand verkörperte diesen Aufbruch so wie Adolf Hitler.
Ob Robert Scholl eines Tages einfach des Schauspiels müde wurde? Oder erkannte: der Klügere gibt nach, so kann ich meinen Sohn nicht überzeugen? Oder auf den Rat seiner Frau hörte? Seine Meinung über Hitler geändert hat er jedenfalls nicht. Doch das Wunschdenken der Tochter, im Einklang mit ihrem Vater zu sein, dessen Meinung ihr bisher wegweisend war, ist verständlich.
Hans Scholl durfte nicht nur das Hitler-Bild hängen lassen. Es gibt keinen Hinweis, wann Robert Scholl und seine Frau Lina entschieden, den Kindern jene Selbstverantwortung zuzugestehen, nach der ihre Erziehung ausgerichtet war, auch wenn Inge und Hans nach ihrer Meinung in eine verhängnisvolle, grundfalsche Richtung gingen. Aber es gibt Inge Scholls nüchterne Tagebuch-Eintragungen. Am 6. Mai 1933: »Hans war heute das erste Mal in der Hitlerjugend.« Am 20. Mai: »Hans ist jetzt in der Hitlerjugend. Heute und morgen ist großes Treffen. Das Braunhemd steht ihm gut.« Genau einen Monat später, am 20. Juni, ist auch Inge Scholl am Ziel: »Mutter hat mir jetzt die Erlaubnis zum BDM gegeben.«
DER GROSSE
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