Sophie Scholl
ihrem Ziel, der Untergrabung und Vernichtung der deutschen Nation, ist das Volk aufgestanden und hat sich hinter seinen Führer Adolf Hitler gestellt. … Wem es heute in Deutschland nicht gefällt, der soll auf dem nächsten Weg verschwinden. … Gebrandmarkt soll derjenige Deutsche sein, der sich noch erlaubt, einmal bei einem jüdischen Geschäftsmann einzukaufen, zu einem jüdischen Rechtsanwalt zu gehen oder sich gar von einem jüdischen Arzt behandeln zu lassen.« Es folgte eine »Liste der jüdischen Firmen von Ulm, damit alle Volksgenossinnen und Volksgenossen wissen, bei wem sie nicht mehr einkaufen werden« – von Adler, Eugen, Viehhändler, Baurengasse 9 bis Wolf, Ernst, Zahnarzt, Münsterplatz 33.
Am Abend ließ der NSDAP-Kreisleiter Eugen Maier die Ulmer SA-, SS- und HJ-Formationen auf dem Münsterplatz aufmarschieren. In seiner Rede griff er zuerst die Juden an. Sollten die »ungeheuren Lügen der Juden im Ausland« nicht aufhören, »dann werden wir zu noch ganz anderen radikalen Mitteln greifen«. Die nächste Warnung galt seinen deutschen Volksgenossen: »Jeden Deutschen aber, der noch beim Juden kauft, werden wir als Volksverräter kennzeichnen.«
Die meisten Käufer und Käuferinnen wichen vor der demonstrativen Gewalt der SA zurück und betraten die Läden nicht; etliche Geschäfte schlossen freiwillig, um ihre Kunden zu schützen. Am 5. April wurde der Boykott reichsweit abgebrochen, weil er, so die offizielle Darstellung, seine Wirkung erreicht habe, nämlich die deutschfeindliche Hetze im Ausland abzustellen. Tatsächlich war der Versuch, die Mehrheit der Deutschen zu antijüdischen Aktionen im Alltag anzustacheln, misslungen. Zwar regte sich kein lauter organisierter Protest, die beiden christlichen Kirchen fanden kein Wort des Bedauerns. Aber gemessen an ihren eigenen Parolen – »Das Volk steht auf« – war die Bilanz für die NSDAP-Organisatoren unerfreulich: Von überall wurden Solidaritätsbekundungen mit Juden gemeldet, öffentliche Boykott-Zustimmung blieb aus, vom geforderten »Massenprotest« war nichts zu sehen. Statt dessen war der Unwillen über diese Aktion deutlich spürbar. Kaum waren die SA-Leute abgezogen, kamen die Kunden wieder, auch in Ulm. Die Drohungen von Kreisleiter Maier zeigten keine Wirkung.
So aufregend und eindrücklich die Konfirmation für Inge Scholl war, nur einen Tag nach dem Boykott-Beginn – kann sie wirklich unberührt gelassen haben, was sich vier Tage lang unter ihren Augen zutrug? Ihr Schweigen legt nahe, dass ihr Tagebuch im Kleinen spiegelt, was im Großen geschah: Warum hätte Inge Scholl spontane Zustimmung verschweigen sollen, wo sie ihrer Begeisterung für Hitler und seine Aktionen bisher im Tagebuch freien Lauf ließ, wissend, damit konträr zu ihren Eltern zu stehen. Und hatte sich die Lage mit dem Abbruch des Boykotts nicht wieder normalisiert? Um fair zu sein: Warum sollte sich die jugendliche Inge Scholl Gedanken machen, wenn der dreiunddreißigjährige jüdische Soziologe Theodor W. Adorno, in Frankfurt am Main zu Hause, am 15. April 1933 seinem Freund Siegfried Kracauer schrieb, er solle wieder »nach Deutschland zurückkommen«, es herrsche »völlige Ruhe im Land«. Der Jude Kracauer war einen Tag nach dem Reichstagsbrand nach Paris geflohen. Adornos Einschätzung der Lage wurde von vielen deutschen Juden geteilt.
Am Konfirmationsabend macht Inge Scholl eine der seltenen Anmerkungen über die jüngste Schwester. »Sofie ist mit Tante Elise nach Backnang in Ferien.« Backnang bedeutete für Sophie Scholl, ihre beste Freundin Lisa zu treffen, die 1928 mit der Familie von Backnang in das nahe Langenburg an der Jagst gezogen war. Diesmal kam Lisa in den Ferien auch nach Ulm. Unter dem 30. April heißt es in Inges Tagebuch: »Am Freitag morgens um 7 Uhr ist Lisa abgereist. Hans, Rolf und Sofie waren mit am Bahnhof.« Rolf gehörte seit einer Woche als »unser neuer Pensionär« zur Familie. Auch in Ulm besserte Lina Scholl das Haushaltsgeld auf, indem sie Kostgänger in die große Wohnung aufnahm.
Ständiges Putzen und Großreinemachen gilt als schwäbische Tugend. Die Söhne waren bei den Scholls offensichtlich davon befreit, nie tauchen ihre Namen in diesem Zusammenhang auf. Die Sache selbst jedoch war Inge Scholl ständige Erwähnung wert. Am 15. Februar 1933: »Mutter und Sofie wischten die Küche.« Klingt durch die lapidare Aussage eine gewisse Genugtuung, dass sich »Mutters Sonnenschein« langsam auch an der Alltagsarbeit
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